Episode 20: Doppelter Feier-Abend
Ein weiterer Tag neigte sich seinem Ende zu. Die Londoner Innenstadt hatte bereits damit begonnen, sich ihr dunkles Abendkleid überzustreifen, dessen glitzernde Applikationen all die bunten Lichter und Leuchtreklamen bildeten, die die Themsemetropole auch nach Anbruch der Dunkelheit bis tief hinein in die Nacht weithin sichtbar hell erstrahlen ließen. Drei Querstraßen von Scotland Yard entfernt - gegenüber einem alten Lichtspielhaus, in dem an diesem Abend gerade mal wieder der Klassiker "James Bond 007 - Liebesgrüße aus Moskau" gezeigt wurde - schrieb über der Eingangstür einer kleinen Eckkneipe eine dieser bunten Leuchttafeln in roten Neonbuchstaben ihr "MY REDEMPION" an die sonst so kahle Betonwand, deren Putz an zahlreichen Stellen bereits abgebröckelt war. Auf einer der drei Stufen, die von der Straße aus zu jener Lokalität hinaufführten, stand ein junger Mann in einem chicken dunklen Anzug mit rotem Seidenhemd und weißer Krawatte. Er hatte ehrwürdig die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug im Gesicht trotz der fortgeschrittenen Tageszeit eine verspiegelte, schwarze Sonnenbrille, wobei er zusätzlich sein Haupt gesenkt hielt, als wolle er damit sicherstellen, daß niemand der zahlreichen vorübergehenden Passanten jenen kleinen roten Teppichfetzen stahl, der hier vom Lokaleingang über die abgewetzten Treppenstufen und den Bürgersteig hinweg bis zur Bordsteinkante ausgelag.
Erst als langsam und gefühlvoll ein schwarzer Rolce Royce heranbrauste und direkt am Ende des Teppichs anhielt, hob der Mann in Schwarz vorsichtig grinsend seinen Kopf. In diesem Moment öffnete sich auch schon die Fahrertür des Luxuswagens und ein ebenfalls komplett in Schwarz gekleideter Herr mit einer Chauffeursmütze auf dem Kopf sprang heraus. Er blinzelte dem Sonnenbebrillten kurz zu, lief dann eilends zur gegenüberliegenden Seite des Autos und öffnete dort die hintere Tür, wobei er einen tiefen Knicks machte und mit feierlicher Stimme verkündete: "Sir, darf ich bitten!" Nun, so höflich bitten ließ sich der Insasse des Luxusschlittens nicht zweimal, und so kam aus dem dunklen Wageninneren kurze Zeit später niemand anders hervor als Inspektor a.D. Lukas Svensson höchstpersönlich. Auch er verbeugte sich nun einmal tief vor seinem Fahrer und sagte dann schmunzelnd zu ihm: "Danke, George, es war alles zu meiner vollsten Zufriedenheit. Der Luxuswagen steht morgen früh wieder da, wo er hingehört - in der Kriminaltechnik, geschrubbt und gewienert und bereit zur Rückgabe an die Witwe Spirellis. Verstanden?! Und im Gegenzug dafür gebe Ihnen den Rest des Abends frei, Sie dürfen mit mir meine Pensionierung und meine bevorstehende Hochzeit feiern!" George konnte sich nun sein Lachen nicht mehr verkneifen. Er schloß Svensson kurzerhand in die Arme und meinte dann: "Mach ich sehr gern, Lukas, mein Freund!" Und schon schritten beide nebeneinander auf den Eingang des Lokals zu. Svensson registrierte dabei sofort den roten Teppich unter seinen Füßen, und schaute George fragend an, so daß dieser sich umgehend zu einer kurzen Erklärung genötigt sah: "Nun, das ist eine Leihgabe von unserem Hausmeister. Er hatte eben noch ein Stück übrig, das damals beim Verlegen in den Fluren der Chefetagen des Yard nicht benötigt wurde. Und da meinte er, wenn Du ihm schon die Reperaturarbeiten an den Leuchtstoffröhren abnehmen würdest, dann könne er sich so wenigsten ein bißchen revanchieren! So, und nun aber nix wie rein ins Vergnügen!"
In diesem Moment wurden die zwei in ihrem Versuch, über die Treppe das Lokal zu betreten, vor dem Eingang von der ausgefahrenen Rechten jenes mysteriösen Mannes mit der Sonnenbrille jäh gestoppt. Der grinsende Typ, der Svensson sofort irgendwie bekannt vorkam, knurrte mit tiefer Baßstimme: "Ey, Ihr kummt hier net rein! Erst will ich Parole von Euch!" Spätestens jetzt hatte der Mann hinter der Spiegelbrille trotz seiner Verkleidung seine wahre Identität preisgegeben, und Lukas entgegnete lachend: "Mach sofort den scheiße Weg frei, Yusuf! Läßt Du uns rein oder kriegst Du krass Ärger, ich schwör!" Yusuf nahm die Sonnenbrille ab und lockerte gleichzeitig den engen Knoten seiner Krawatte, während er übers ganze Gesicht strahlend ausrief: "Ok, Alder, laß ich mal gelten! Aber sag mal, wie soll ich eigentlich jetzt zu Dir sagen: Sir Svensson oder Sir Lukas oder Ex-Inspektor ..." Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn und beantwortete dann seine eben gestellte Frage einfach gleich selber: "Alder, ich habs. Ich nenn Dich ab jetzt voll konkret ... Expektor ... Verstehst Du: Ex und Inspektor macht zusammen Expektor! Krasse Sache, ey!" Und während Yusuf sich und seinen Vorschlag draußen vor der Tür noch ein wenig selbst feierte, begaben sich George und Lukas schon mal ins Innere der Kneipe.
In dem kleinen Lokal war es schon ziemlich voll. Lukas staunte nicht schlecht. Tatsächlich entdeckte er rundum nur vertraute Gesichter. Schon beachtlich, mit wie vielen Leuten er über die Jahre seiner Dienstzeit in Kontakt gekommen war und wie viele davon er an diesem Abend als gute Bekannte, wenn nicht gar als Freunde, hier begrüßen durfte. An einem Tisch entdeckte er, in angeregter Unterhaltung vertieft, Dick Smith und Frank Gumble von der Londoner Transportpolizei, die seinerzeit an den Tatortermittlungen im Mordfall Napolitani beteiligt gewesen waren. Er ging kurz zu ihnen herüber, begrüßte sie herzlich und wünschte ihnen einen vergnüglichen Abend. Einen Augenblick war George zur Stelle und nahm Svensson den Mantel ab, um ihn dann zum Garderobenständer zu bringen. Und Lukas ging währenddessen schon einmal zur Bar vor, wo er auf einem Hocker Platz nahm, um sich zur Feier des Tages ein Bier zu bestellen. Aber George, der sich in diesem Augenblick wieder zu ihm gesellte, winkte nur ab: "Bier gibts später, jetzt erstmal zur Doppelfeier des Tages Champagner für alle zum Anstoßen".
Aus einer dunklen Ecke der Kneipe tönte es daraufhin: "Ja, und der geht auf mich!" Der Mann, der dies ausgerufen hatte und der nun langsam aus dem Halbdunkel ans Licht kam, war kein anderer als Chief Superintendent Harold Freakadelly höchstpersönlich. Er trat auf Svensson zu, schüttelte ihm kräftig beide Hände und sagte dann: "Herzlich Willkommen! Ihnen, lieber Lukas, sowie uns allen, einen schönen Abend!" Tosender Beifall setzte ein und hielt nahezu eine Minute an. Svensson bedankte sich bei Freakadelly, und dann verteilte einer der Ober die Gläser mit dem spritzigen Inhalt. Die versammelte Gemeinschaft prostete Lukas Svensson zu und stimmte gleichzeitig das Lied "For He's A Jolly Good Fellow" an. Svensson war sichtlich gerührt. Und so leerte er all seinen sonstigen festen Prinzipien zum Trotz sein Glas in nur einem einzigen Schluck. Anschließend nahm er sich die Zeit, sich einmal genauer in dem schummrigen Lokal umzuschauen. Da waren die anstelle der üblichen Luftschlangen und Luftballons überall an der Decke und den Wänden gelbe Absperrbänder mit der Aufschrift "Police Line Do Not Cross" sowie Spurensicherungsaufsteller mit den Ziffern von 1 bis 9 verteilt. Über dem Eingang hing zudem ein Schild, auf dem in goldener Schrift stand: "Einen glücklichen (Un-)Ruhestand und allzeit ruhigen Wellengang im Hafen der Ehe, lieber Lukas!" Und während er noch so las, klopfte Svensson jemand vorsichtig auf die Schulter: "Der Spruch ist von mir, Sir! Und danke für die Einladung, wo wir uns doch noch gar nicht so lange kennen!" Der da neben ihm stand, war kein anderer als Phillip Young, der junge Sergeant der Wasserschutzpolizei, den er beim Auffinden der Leiche Francesca Scampis kennengelernt hatte. Svensson hatte ihn am Montagvormittag ganz spontan telefonisch über den Anschluß seiner Dienststelle eingeladen. Svensson schüttelte dem Beamten erfreut die Hand: "Schön, daß Sie es einrichten konnten, Phillip! Vielen Dank für das, was Sie da geschrieben haben! Wissen Sie, irgendwie hab ich mich bei unserer Begegnung sofort mit Ihnen verbunden gefühlt. Darum war es nur recht und billig, daß Sie heute hier mit dabei sind. Und nun feiern Sie schön!" Phillip bedankte sich und ging dann wieder zurück an seinen Tisch.
Svensson schaute sich weiter um, als er mit einem Male - auf dem Barhocker zu seiner Linken sitzend - einen jungen Mann bemerkte, der seinen Kopf auf dem Thresen abgelegt hatte und dabei ganz leise schnarchende Laute von sich gab. Svensson stubste ihn vorsichtig an, worauf der Mann sein Haupt einen Moment später erhob und dem Inspektor a.D. mit traurig-verklärtem Blick entgegenschaute. Als er dann - zum Reden ansetzend - den Mund öffnete, gab es für Lukas keinen Zweifel mehr, daß dieser Gast an diesem Abend bereits sehr tief ins Glas geschaut haben mußte - Pardon, korrigiere! Nicht in ein einzelnes Glas, es mußten bei der Standarte und dem Silberblick wohl schon ein Dutzend hochprozentig gefüllte Gläschen gewesen sein! Svensson musterte den Trunkenbold kurz mit ernstem Blick, dann fragte er kopfschüttelnd: "Was treibt gerade einen wie Sie denn dazu, sich so früh am Abend schon dermaßen zu besaufen, Crawler!" Svenssons Ex-Kollege grinste nur blöd, während sein Kopf hin und her wackelte und seine Hand beim Versuch, in die Brusttasche seines Oberhemdes zu gelangen, immer wieder danebengriff. Endlich hatte er sein schwieriges Unterfangen doch noch erfolgreich abgeschlossen und beförderte ein arg zerknülltes Blatt Papier hervor, das er Svensson hin und her wedelnd vors Gesicht hielt: "Das hier! Das ist der Grund! Ne, Blödsinn! Nicht der Wisch da! Sondern was da drin steht, und das, was nicht da drin steht!" Lukas war neugierig geworden. Er entzog Crawler das kurzerhand Papier und strich es auf dem Thresen glatt. Ein kurzer Blick genügte, und Svensson nickte: "Den Zeitungsartikel kenn ich schon. Hab ihn heute morgen beim Frühstück gelesen. Ja, und?! Ist doch schön für Ihr Herrchen, daß er jetzt Chef der neu gegründeten Antiterroreinheit CI7 ist, oder?! Da fällt doch für das kleine Schoßhündchen bestimmt auch ein dicker Knochen ab?!" Crawlers Mundwinkel folgten der Schwerkraft, seine Augen füllten sich mit kleinen wäßrigen Tropfen, während er den Kopf hin und her warf und wütend loslallte: "Eben nicht! All die Jahre hab ich alles für Wannabe getan, wirklich alles! Und noch viel mehr! Und jetzt, kaum daß er in diese Terrordingsda aufsteigt, da werd ich auch schon mit einem simplen Fingerschnippsen weggestoßen und einfach so zurückgelassen von diesem stinkenden Emporkömmling ..." Weiter kam Crawler nicht, denn plötzlich rollte er die Augen und würgte zweimal kurz, bevor er voller Panik aufsprang und stark schwankend in Richtung Toilette entschwand. Ganz offensichtlich gab es nach dem übermäßigen Alkoholkonsum jetzt in seinem Körper auch so einiges an geruchsintensiv aufsteigenden Emporkömmlingen, die darauf aus waren, im Schoße einer öffentlichen Kloschüssel von Inspektor Crawler einfach so zurückgelassen zu werden. Naja, Schwamm drüber! Das Leben ist halt manchmal ganz schön bitter!
Statt noch länger über Crawlers übles Schicksal zu senieren, widmete sich Svensson nun allerdings lieber wieder seinen anderen Gästen. Neben dem Eingang entdeckte er dabei seinen Schützling Tim Hackerman, dem er nach einer zweijährigen Jugendstrafe wegen Computerkriminalität vor fast viereinhalb Jahren den Job in der Personalabteilung des Yard besorgt hatte, und dem er in entscheidendem Maße sein Liebesglück verdankte. Ohne Tims Hilfe wäre er schließlich gar nicht erst an die damalige Adresse seiner zukünftigen Frau gekommen. Und so schlossen sich die beiden Männer auch sogleich zur Begrüßung wie zwei alte Freunde innig in die Arme, wobei Tim Svensson schmunzelnd ins Ohr flüsterte: "Na, sind Sie Ihr Schmuckstück damals bei der gesuchten Dame denn eigentlich losgeworden?!" Lukas Svensson löste sich aus der Umarmung und blinzelte dabei zurück: "Nein, im Gegenteil! Ich hab an diesem Abend sogar noch ein ganz besonderes Schmuckstück gefunden unter der Adresse, die Du mir gegeben hast!" Dann gönnten sich die Beiden an der Bar ein Bier und plauderten ein wenig über dies und das, bis Timmy schließlich plötzlich seinen mitgebrachten Laptop aufklappte und ihn einschaltete. Svensson schaute ein wenig verdutzt, als sich auf dem Bildschirm nacheinander verschiedene bunte Kästchen öffneten und auf einem mit dem Titel "Videokonferenz" ein ihm nur allzu gut bekanntes Gesicht erschien: "Guten Abend, Lukas! Du siehst, modernste Technik machts möglich! Und meine brilliante Systemanalystin natürlich auch! Auf jeden Fall kann ich so heute Abend über den Großen Teich hinweg doch noch bei Dir sein, wenn Du unter Mißachtung aller Dienstvorschriften und fernab Deiner Dich liebenden Fast-Ehefrau Deinen letzten Tag in Freiheit begehst! Ich habs da nicht so gut, mein Tag hat mal wieder 24 Stunden, und keine Minute davon wirds langweilig. Der Internationale Terrorismus kennt nunmal keinen Feierabend! Ich freu mich jedenfalls, Dich mal wiedergesehen zu haben! Und ich hoffe, die Überraschung ist uns gelungen - Deinem Freund Tim, Deiner bezaubernden Yelena und mir, Deinem alten Freund Jack aus L.A. So, und nun feiert noch ordentlich und macht nicht so spät Schluß! Morgen wird schließlich geheiratet! Daß Ihr mir morgen nachmittag ja ordentlich viele Fotos schießt, wo ich schon nicht live dabei sein kann! Und vergiß ja nicht, Deinen Armreif zu tragen! Du weißt, ich hab hier hervorragende Spezialisten um mich, die mir jedes später noch so kleine Detail Deiner Fotos sichtbar machen können. Also dann, alles Gute, mein Freund!" Und während ihm Jack vom Bildschirm aus noch einmal zuwinkte, hielt Lukas mit einer kleinen Träne im Auge sein rechtes Handgelenk mit dem geheimnisvollen Silberarmreif vor die Linse der eingebauten Laptopwebcam. Timmy klappte den Laptop wieder zu, und Lukas drückte ihn noch einmal ganz fest an sich: "Danke, Junge! Damit hast Du mir eine riesige Freude bereitet. Diesem Mann da verdanke ich eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens ..." Und bei diesen Worten mußte Lukas Svensson unweigerlich an Cathrin, Jane und den kleinen Luke denken, deren gemeinsame Zukunft nun nicht mehr in Gefahr war - und das fühlte sich in diesem Moment einfach nur verdammt richtig an!
Erschrocken sprang Svensson auf. Verdammt! Cathrin und Jane! Er hatte doch versprochen, sie zu informieren, wenn sein Plan erfolgreich gewesen war! Das hatte er in den letzten beiden Tagen ja völlig verschwitzt. Rasch erkundigte er sich bei dem Barmann nach einem Telefon. Und der verwies ihn auf den Münzfernsprecher in der Nähe der Toiletten. Svensson kramte an der Garderobe sein Notizbuch aus der Manteltasche, suchte Cathrins Telefonnummer heraus und begab sich dann zum Telefonieren in den dunklen Gang hinter dem Tresen.
Das Läuten des Telefons hatte Cathrin und Jane geweckt. Schließlich waren beide schon kurz nach dem Abendessen - nachdem sie den kleinen Luke zu Bett gebracht und ihm gemeinsam seine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatten - bei den Abendnachrichten auf der Couch Arm in Arm eingeschlummert. Nun löste sich Cathrin aus der Umarmung Janes und begab sich schnellen Schrittes zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab und fragte: "Ja, wer ist denn da?" Am anderen Ende war es ziemlich laut. Dennoch erkannte Cathrin sofort die beruhigende Stimme Svenssons, die ihr mitteilte: "Es ist alles so gelaufen, wie ich es geplant hatte. Sie und Jane brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen. Der ganze Spuk ist endgültig vorbei!" Cathrin fiel bei diesen Worten ein Stein vom Herzen. Am liebsten wäre sie dem Inspektor augenblicklich um den Hals gefallen, aber da das über die Entfernung nicht ging, sagte sie nur: "Danke vielmals! Wie können wir das nur je wieder gut machen bei Ihnen?" Und aus der Hörmuschel an Cathrins Ohr tönte es zurück: "Einfach, indem sie Luke gute Eltern sind, alle Beide. Seien Sie immer für ihn da, ziehen Sie ihn mit Liebe und Geduld auf, damit aus ihm einmal ein guter, anständiger Mensch wird. Solche Menschen braucht es nämlich. Also dann, machen Sie es gut! Wir sehen uns!" Und schluchzend ergänzte Cathrin: "Ja, spätestens am 20.09. zur Taufe von Luke! Gute Nacht, und Gott beschütze Sie!" Damit legte sie den Hörer wieder auf seinen Platz und begab sich zurück zu Jane, die ihren Kopf sogleich in den Schoß der Geliebten legte, während die ihr sanft übers Haar strich und ihr dabei Svenssons liebevolle Worte sinngemäß wiedergab. Und schon eine Viertelstunde später waren beide Frauen wieder sanft entschlummert.
Im "My Redemption" war derweil an Schlaf gar nicht zu denken, denn hier tobte inzwischen die Party. Der DJ spielte immer wieder abwechselnd "Go West" und "Kalinka", und die angeheiterten Gäste legten dazu ein kleines, beschwingtes Tänzchen aufs Parkett. Als Svensson aus dem dunklen Flur zurückkehrte, lief er direkt seinem Freund Yusuf Kebab in die Arme. Der trompetete auch gleich los: "Ey Alder, nich so stüremisch! Guckst Du besser, wo Du hinläufst! Übrigens, was ich noch sagen wollte, neulich Abend, bei Deinem Besuch mit dem Babydoktorspinner im Yard. Du, Dein Taschentuch, das hab ich ..." Svensson sah ihn erschrocken an: "Ja, was hast Du mit dem Taschentuch?" Yusuf versuchte, seine Ausführungen fortzusetzen: "Keine Panik, ey! Das hab ich ..." Weiter kam er nicht. Denn plötzlich betrat eine etwa dreißigjährige elegant ganz in Schwarz gekleidete Frau das Lokal, schritt ohne Zögern auf Svensson zu und hielt ihm sofort die gezückte Dienstmarke vors Gesicht: "Mein Name ist Rita Diamont. Lukas Svensson, ich ermittle im Auftrage der Dienstaufsicht gegen Sie! Leugnen und Abstreiten hilft Ihnen gar nichts, ich weiß alles, was Sie getan haben! Und ich habe jede Menge Beweise gegen Sie! Also packen Sie jetzt und hier auf der Stelle aus? Oder soll ich das hier vor versammelter Mannschaft tun?" Lukas Svensson war zur Salzsäule erstarrt. Inzwischen hatte auch sein Gesicht jeden Farbschimmer verloren. Wie nur? Wie war sie ihm auf die Schliche gekommen? Hatte sie etwa Jack Holmes schon verhaftet? Was würde jetzt aus ihm werden, aus seiner Hochzeit, aus Yelena! Mein Gott, er würde im Gefängnis landen! Alles war aus und vorbei! Vielleicht konnte ein reumütiges Geständnis ja am Ende noch alles retten? Svensson wollte gerade alles zugeben, da unterbrach ihn Rita Diamont jäh: "Ok, dann pack ich eben aus!" Und damit begann sie zu den leise einsetzenden Klängen von "I'm To Sexy For My Shirt", sich langsam vor ihm und seinen Gästen auszuziehen. Svensson atmete auf, und ein gesundes Rosa kehrte dabei zurück in sein erblaßtes Gesicht. Diese Rita war nur die obligatorische Stripperin, die seine Freunde für ihn engagiert hatten. Und der ganze unheilvolle Auftritt gehörte zu ihrer Nummer. Im nächsten Moment landete auch schon der rote Spitzen-BH jener Künstlerin in seinen Händen, gerade noch rechtzeitig, damit er sich mit ihm den nun in Strömen rinnenden Angstschweiß von der Stirn wischen konnte. Yusuf klopfte Lukas auf die Schulter: "Geile Nummer, ey! Hab ich organisiert, aber kein Sterbenswort zu Aisha, okay! ... Ach übrigens: Dein Taschentuch hab ich hier. Vielleicht solltest Du lieber das zum Schweißwischen benützen und der jungen Frau ihr Utensil wieder zurückgeben. Die friert sonst nachher, weiß Du!" Svensson gab der Tänzerin ihren BH zurück und bedankte sich dann ganz artig für ihren Auftritt. Das Taschentuch aber verstaute er umgehend ganz tief und fest in seiner Hosentasche. Und dann verschwand er heimlich, still und leise für eine kleine Ewigkeit an der Bar, wo er auf den gerade erlittenen Schock erstmal drei Gläschen Wodka auf Ex kippte.
Wenig später raunte eine Stimme in Svenssons Rücken: "Hey, Chef! Nette Feier! Und einen schönen Gruß von meinem Boß. Der läßt sich heute hier von mir entschuldigen, hat ja auch viel zu tun in seiner Werkstatt!" Es war Luigi Rigatoni, jener Lehrling von Svenssons Freund Jack Holmes, der heute zu seinem Bedauern nicht dabei sein konnte, weil er fürchten mußte, Yusuf könne ihn sonst nach ihrer gemeinsamen Nacht- und Nebelaktion wiedererkennen. Luigi reichte Lukas freundlich die Hand und meinte: "Mein Chef hat gesagt, wannimmer Sie seine Hilfe brauchen, er steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, und Sie sollen sich nicht scheuen, Ihn anzurufen. Er steht für immer tief in Ihrer Schuld! Wissen Sie, was er da meint?!" Svensson nahm den Lehrling für einen Moment zur Seite und erzählte ihm dann recht redseilig fast die ganze Geschichte von seiner ersten schmerzvollen Begegnung mit Jack Holmes an jenem verhängnisvollen 17.Februar 1986 in einer ganz ähnlichen Kneipe zu fast derselben Stunde. Nur die Sache mit dem verschwundenen Geld vergaß er dabei auch diesmal wieder zu erwähnen. Und als er fertig war, verabschiedete er Luigi mit einem schönen Gruß an Jack Holmes.
Irgendwann kurz vor 23 Uhr trat noch einmal Chief Superintendent Freakadelly an den nun leicht angeheiterten Lukas heran und legte vertrauensvoll seinen Arm um den ehemaligen Untergebenen: "Wissen Sie, Lukas, das ist eine schöne Feier! Und sie hat mir vor allem einen weiteren jammervollen Abend im Kreise meiner Lieben erspart. Zu allem Unglück hat sich nämlich heute vormittag auch noch telefonisch meine geliebte, aber auch reichlich anstrengende Tochter Janet angekündigt, weil ihr Göttergatte mal wieder lieber einen Abend auf seiner - ihm von mir zur Hochzeit geschenkten - Segelyacht verbringt als mit ihr!" Svensson unterbrach ihn lächelnd: "Naja, das tun sie doch auch! Also, den Abend lieber woanders zu verbringen, als bei ihrer Janet!" Freakadelly mußte schmunzeln über soviel einleuchtende Logik: "Ja, da haben Sie recht! Na, wie dem auch sei: Jedenfalls hat er das Schiff auch noch 'Simone' getauft, nach seiner über alles geliebten Mutter, die verstarb, als er noch ganz klein war, worauf er allein von seinem herrschsüchtigen Vater aufgezogen wurde, der ihm fortan jede Freude am Leben nahm und ihn nur noch auf das Streben nach Macht und Erfolg ausrichtete. Was dabei rauskam, durften Sie ja selbst lang genug bewundern!" Svensson nickte nachdenklich, während Freakadelly fortfuhr: "Naja, was ich eigentlich sagen wollte, meine Tochter ist eifersüchtig auf eine Yacht, und Charles läßt sich natürlich auch bei Ihnen durch mich entschuldigen, obwohl ich mal denke, es ist für Sie ein zu verschmerzender Verlust, wenn mein Schwiegersohn nicht hier ist, oder?!" Dabei zwinkerte er Svensson verstohlen zu und verabschiedete sich dann mit den Worten: "Na, nun ist es aber für mich Zeit fürs Bett. Zuhause schlafen sicher schon alle, und da kann dann auch ich getrost zur Ruhe gehen! Gute Nacht und alles Gute, mein Lieber!" Lukas schüttelte seinem Ex-Chef die Hand und erwiderte dann: "Danke fürs Kommen, Mister Freakadelly!" Doch der schüttelte, schon im Gehen begriffen, nur den Kopf: "Sie wissen doch, Lukas, für gute Freude heiße ich Harry ..."
Im diesem Augenblick raste einem Geschoß ähnlich der immer noch sturzbetrunkene Inspektor Crawler aus dem Dunkel des Ganges bei den Toiletten heraus direkt auf Freakadelly zu und posaunte dabei, so laut es ging: "Ja, genau! Wir sind doch alle Brüder hier, oder?! Du bist der Lukas, ich bin der Derrik, und das ist der Harry! So, und nun gehts nach Hause, und der Harry fährt für den Derrik schonmal den Wagen vor!" Svensson stützte - so gut er konnte - rasch den plötzlich in sich zusammensinkenden Crawler. Dann sah er zu dem sichtlich entsetzten Freakadelly herüber und beruhigte ihn mit den Worten: "Keine Sorge, ich kümmer mich schon um diese kleine Schnapsleiche! Mein Freund George kann ihn ja nach Hause fahren, ins Bett zuhause bei seiner Mami!" Der inzwischen hinzugeeilte George grinste, dann schnappte er sich die betrunkene Jammergestalt und schleppte sie nach draußen in den bereitstehenden Royce, der schon wenig später mit quietschenden Reifen davonfuhr.
Auch die anderen Gäste verließen nach und nach bis kurz vor Mitternacht die Feier. George schien beim Nachhausebringen Crawlers wohl noch aufgehalten worden zu sein, und da sich Lukas nach dem Genuß der drei Schnäpse vorhin nun auch nicht mehr ganz sicher auf seinen Füßen fühlte, wartete er brav, daß man ihn nach Hause brachte, wo seine Yelena jetzt sicher schon sehnsüchtig seiner Heimkehr entgegensah. Der DJ schaute auf die Uhr und verkündete schließlich in einer Pause zwischen seinen zwei Lieblingssongs: "So, und nun für den Herrn Inspektor a.D. ein letztes Mal in Vorbereitung auf seine Hochzeit ein Lied aus der Heimat seiner zukünftigen Gattin ... Kalinka!" Wieder dröhnte die vertraute russische Volkswaise in einen modernen Beat gekleidet aus den Lautsprechern, während der junge Mann hinter dem Mischpult langsam seine Sachen zusammenzupacken begann. Da betrat von draußen plötzlich - wie aus dem Nichts heraus kommend - ein etwa 50jähriger, drahtiger Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren und einem stoppligen Dreitagebart das Lokal. Er bewegte sich festen Schrittes schnurstracks auf Svensson zu, hielt ihm die Hand entgegen und sprach mit einem leichten russischklingenden Akzent: "Gestatten, Mister, mein Name ist Iwan Kowarno. Ich lebe erst seit ein paar Monaten in dieser Stadt, und da komm ich hier zufällig vorbei und höre die Musik aus Mütterchen Rußland. Ein Weilchen traute ich mich nicht herein, aber dann kam ein junger Mann in einem schwarzen Anzug mit einem dunkelroten Hemd und Krawatte aus dem Lokal, den sprach ich an. Und der erklärte mir, daß hier ein Inspektor von der Polizei seinen Abschied feiert und gleichzeitig seinen letzten Abend vor der Hochzeit mit einer Landsmännin von mir. Wie war noch ihr liebreizender Name?" Svenssons Augen leuchteten, nun da er den Namen seiner Angebeteten aussprechen durfte: "Yelena, Yelena Zladkaja. Und ich heiße Svensson, Lukas Svensson!" Damit schüttelte er dem Fremden mit der festen, tiefen Stimme freundlich die Hand. Und Kowarno entgegnete: "Zladkaja - schöner, süßer Name. Und ganz sicher verbirgt sich dahinter auch eine ebenso süße Frau. Wissen Sie was?! Wir zwei sollten anstoßen. Auf Sie, Lukas, auf ihre bezaubernde Yelena und auf ihrer beider Zukunft". Und mit diesen Worten begab er sich rasch zur Bar.
Inzwischen klopfte der DJ Svensson leicht nervös auf die Schulter: "Ich hab um Punkt 0 Uhr Feierabend, und das Lokal schließt um dieselbe Zeit. Was Probleme mit Überschreitung der Sperrstunde bedeuten, muß ich Ihnen ja wohl nicht erst großartig erklären, oder?! Also, Sie sollten sich jetzt langsam aber sicher auch auf den Heimweg machen, Sir!" Und damit verschwand er wieder hinter seinem Mischpult, drehte die Musik ab und packte nun auch das Pult zusammen, um es anschließend draußen im Hof in seinem Auto zu verstauen. Iwan Kowarno war unterdess mit zwei randvoll gefüllten Wodkagläsern zurückgekehrt, von denen er das in seiner rechten Hand Svensson darbot und gleichzeitig verkündete: "Ein doppelter Wodka für einen zweifachen Anlaß! Na starowje! Wohlsein! Auf Sie, Lukas, auf ihren Ruhestand, auf Yelena, auf uns und auf die Gesundheit. Und auf Mütterchen Rußland, das ich hoffentlich bald gesund wiedersehen darf!" Lukas war erstaunt: "Ach, Sie bleiben gar nicht hier?" Kowarno schüttelte betreten den Kopf: "Nein, ich hab hier nur eine Kleinigkeit zu klären, dann bin ich wieder weg! ... Aber jetzt bring ich Sie erstmal nach Hause, wenn's recht ist. Mein kleiner Wagen steht nämlich keine zwanzig Meter von hier! Und allein sollten Sie in ihrem Zustand lieber nicht nachts durch die Straßen ziehen. Wie leicht kann Ihnen da etwas zustoßen!" Lukas nickte, während er auch diesen letzten Schnaps des Abends in einem Zug leerte: "Ja, da haben Sie recht, mein Freund. Wer weiß das besser als ich, daß einem hier leicht etwas passieren kann?! Also gut, bringen Sie mich nur heim. Ich kann Sie ja während der Fahrt bezüglich des Weges anleiten - oder briefen, wie mein Freund Jack aus USA immer zu sagen pflegt. Ja, und der Barkeeper kann dann auch endlich seine immer deutlicher werdenden Blicke zur Uhr unterlassen und den Laden hier dicht machen ... Für heute haben wir, glaub ich, alle genug! Und außerdem wird morgen geheiratet! Also, auf zu Yelena!"
Svensson hakte sich bei seinem neuen russischen Freund unter und winkte dem Barmann im Gehen noch einmal kurz zu. Dann verließen die beiden Männer gemütlichen Schrittes das Lokal und stiegen in das bereitstehende Auto, welches die Zwei sogleich ganz geruhsam in Richtung von Svenssons Wohnung und damit hinein in die offenen Arme seiner innig geliebten Yelena kutschierte ...
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