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sven1421

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:45

[B] 24 Antworten (Adventskalender No.1)

Weil allzu Süßes eh nur die Pfunde vermehrt, gibt es zur Adventszeit von Ex-Inspektor Svensson und mir eine Runde Zartbitteres - in 24 kleinen leichtverdaulichen Portiönchen eines Miniromans hinter je einem Türchen versteckt, wie es sich für einen echten ADVENTSKALENDER gehört. :thumbsup:
Dabei beginne ich - ganz 24like - mit einem kleinen Previously zur Erinnerung an das, was zuletzt geschah. Laßt uns, liebe Svensson-Fans, also noch einmal andächtig zurückschreiten zu jenem unheilvollen frühen Morgen nach der berauschenden langen Nacht des Junggesellenabschieds unseres frischpensionierten Scotland-Yard-Beamten, der sich - langsam in seinem Bett zu sich kommend - schon auf die bevorstehende Hochzeit mit der unglaublich wundervollen Yelena Zladkaja freut ...


WIR ERINNERN UNS:

Der Nebel lichtete sich langsam. Die Schleier der Dunkelheit wurden gelüftet. In Lukas Svenssons Kopf setzte die Dämmerung ein, in der das aufflackernde Licht der Erinnerung die Schatten des Vergessens nach und nach vertrieb. Wie in Zeitlupe richtete sich sein Oberkörper in seinem Bett auf, während sein Brummschädel ihm nur allzu schmerzhaft ins Bewußtsein rief, daß er gestern für seine bescheidenen Verhältnisse wohl doch ein wenig zu viel getrunken haben mußte. Vor allem der letzte doppelte Wodka mit diesem unbekannten Russen - der dann so nett war, ihn nach Hause zu fahren - schien es in sich gehabt zu haben. Auf alle Fälle konnte sich Lukas seit dem Verlassen des Lokals um Mitternacht an rein gar nichts mehr erinnern. Nicht daran, wie er nach Hause kam, und schon gar nicht daran, wie er dort bis ins Bett gelangte - und wer ihn dann bis auf Unterhemd und Boxershorts ausgekleidet hatte.

Svensson schaute an sich herunter und entdeckte auf seinem Unterhemd einen großen blutroten Fleck. In Gedanken redete er mit sich selbst: 'Oh nein! Auch das noch! Da muß ich mit diesem Iwan Sowieso wohl gestern Nacht auch noch einen Zwischenstop bei McMickeys eingelegt haben, wonach mir wieder einmal der verdammte Ketchup auf die Wäsche tropfte'. Leise vor sich hin fluchend begab er sich ins Bad, um dort mit ein wenig kaltem Wasser und etwas Reiben vielleicht doch noch zu retten, was unter Umständen eh nicht mehr zu retten war. Im Flur geriet er dabei leicht ins Taumeln. Eine gewisse Restbenommenheit stellte sich schlagartig ein, und ein pochender Schmerz ließ Lukas nach seinem Kopf greifen, an dem er zu seinem Entsetzen eine große klaffende Wunde an der Stirn ertastete. Nein, diesmal war es kein Ketchup auf seinem Hemd, diesmal war es Blut - sein Blut! Irgendwer mußte ihm gestern Nacht in seinem hilflosen Zustand auf den Kopf geschlagen haben. Oder war er vielleicht auch einfach gestürzt und irgendwo gegengeschlagen? Nun ja, Yelena würde es schon wissen! Ja, genau! Yelena. Wo war sie denn eigentlich? Seine Hand ertastete in diesem Moment quasi im Blindflug den Lichtschalter des Badezimmers, und schon eine Sekunde später wurde es ganz und gar hell um ihn her. Sogar so hell, daß er die Augen ersteinmal schließen mußte.

Lukas hielt seine Stirnwunde mit zugekniffenen Augen kurz unter den zuvor aufgedrehten Wasserhahn. Dann stellte er sich in voller Größe vor dem Spiegel auf und öffnete vorsichtig die Augen, um sich seine Verletzung einmal genauer zu betrachten. Aber statt an dem langen Riß in seiner Stirn blieb sein Blick an etwas ganz anderem haften, nämlich an dem, was da in kleinen Druckbuchstaben offensichtlich mit einem lila Glitzerlippenstift auf das Spiegelglas geschrieben stand. Der erstarrte Svensson las es, wieder und wieder - und auch beim zwanzigsten Mal konnte er es einfach nicht begreifen und schon gar nicht glauben: "Liebster Lukas! Ich kann mein Leben nicht mit Dir teilen! Das ist mir heute Nacht ganz deutlich klargeworden! Und darum verlasse ich Dich! Suche mich bitte nicht! Ich gehe von hier fort, weit fort! Nichts hält mich nun mehr hier! Ich liebe Dich einfach nicht genug, um Deine angetraute Ehefrau werden zu können! Vergiß mich! Lebe wohl, Deine Yelena!"

Svensson verstand die Welt nicht mehr. Er hatte doch immer gespürt, daß sie ihn liebte. Sein Gefühl konnte ihn einfach nicht so getäuscht haben. Und außerdem hatte sie doch noch nie so einen Lippenstift benutzt. Wo hatte sie den denn plötzlich her? Und warum schrieb sie plötzlich so ganz ohne auch nur einen einzigen Fehler? Nein, bestimmt war das alles nur ein dummer Streich - als krönender Abschluß des gestrigen Abends vielleicht?! Lukas mußte Gewißheit haben. Er lief zurück ins Schlafzimmer, öffnete alle Schränke und Schubladen. Alle ihre Kleider waren noch da, nur ein paar Schmuckstücke fehlten. Instinktiv griff sich Svensson an sein rechtes Handgelenk - ja, der Armreif von Jack war auch verschwunden! Aber das alles war ihm im Moment gar nicht so wichtig, für ihn zählte einzig und allein eins: Seine über alles geliebte Yelena - sie konnte, nein, sie durfte ganz einfach nicht weg sein! Nicht so und schon gar nicht heute! Zaghaft begann er ihren Namen zu flüstern, erst nur im Schlafzimmer, dann rief er ihn etwas lauter im Flur. Dann ganz laut im Treppenhaus, von wo aus er als Echo gleich mehrfach wiederhallte. Eine Minute später schrie er ihn durch die ganze Wohnung und brüllte ihn anschließend in völliger Verzweiflung aus dem geöffneten Fenster des Wohnzimmers hinaus - mitten hinein in die gerade erst langsam erwachende Londoner Innenstadt. Doch so sehr er sich auch die Kehle aus dem Hals schrie, es änderte alles nichts an jener unverrückbaren, niederschmetternden Tatsache ...

Yelena war und blieb verschwunden ...

24 ANTWORTEN

Einklang zum ersten Advent - BITTE ANKLICKEN!

Svenssons Finger krallten sich verzweifelt in den Fensterrahmen, während sich sein Oberkörper immer weiter darüber hinausbeugte. Sein starrer, tränenverschleierter Blick fiel auf die Straße, auf der sechs Stockwerke tiefer der morgendliche Berufsverkehr vorbeizog, während auf den Gehwegen links und rechts die Menschen klein wie Ameisen emsig hin und her huschten. Wie immer beim Herabblicken aus so schwindelerregender Höhe überkam den unter Höhenangst leidenden Lukas auch in diesem Moment wieder der absurde innerliche Gedanke, den furchterregenden Höhenunterschied ganz rasch nur durch einen einzigen beherzten Sprung in die Tiefe überwinden zu können - ein Gedanke, dem er sonst äußerlich stets durch das sofortige Zurücktreten vom Fenster entgegenwirkte. Doch diesmal war genau das Gegenteil der Fall. Zentimeter für Zentimeter lehnte er sich weiter über den Fenstersims, schloß seine Augen und ließ sein spärlich vorhandenes Kopfhaar vom Hauch des kühlen Morgenlüftchens umwehen.

Die Gedanken in seinem Kopf kreisten nur noch um die verschwundene Yelena und die damit verbundene bittere Tatsache seiner schrecklichen Einsamkeit - eine bedrückende Einsamkeit, wie er sie als kleiner Junge schon einmal empfunden hatte. Und jene sorgsam verdrängte Erinnerung an den Nachmittag des Heiligen Abends 1955 kehrte dabei schmerzhaft in sein Bewußtsein zurück. Seine Eltern Maria und Joseph Svensson fuhren damals - nachdem sie zwei Jahre zuvor von Ostdeutschland zu entfernten Verwandten nach England übergesiedelt waren - bei stürmischem Wetter noch einmal von ihrem Wohnsitz auf dem Lande nach London, um dort ein Geschenk für ihren Sohn zu besorgen. Es handelte sich dabei um etwas, was er sich schon seit langem so sehnlichst wünschte: eine Sherlock Holmes Sonderausgabe von Sir Arthur Conan Doyle mit sämtlichen Geschichten des weltberühmten Detektivs in 6 Bänden. Auf dem Rückweg waren sie dann auf der regennassen Fahrbahn durch einen ihnen entgegenkommenden Raser von der Straße abgedrängt worden. Nach dem Durchbrechen der Leitplanke waren sie mitsamt ihrem Auto eine tiefe Böschung heruntergestürzt, wobei sich der Wagen hatte gleich mehrere Male überschlagen hatte. Beide waren sofort tot gewesen, während Lukas damals zur selben Zeit am hell erleuchteten Fenster neben der dort aufgestellten Weihnachtskrippe vergeblich ihre Rückkehr herbeigesehnt hatte. Spät am Abend hielt schließlich ein Streifenwagen vor dem Haus, und ein gewisser Sergeant Badnews überbrachte seinen Verwandten und ihm mit einem Ausdruck ehrlich empfundenen Bedauerns die schreckliche Nachricht sowie die als einziges beim Unfall unversehrt gebliebene Sherlock-Holmes-Ausgabe. Seither hatte die Weihnachtszeit für Svensson immer einen bitteren Beigeschmack gehabt. Die Sonderausgabe der Holmesgeschichten aber verschwand noch in der selben Nacht im Keller des Hauses und gelangte von dort nie wieder ans Tageslicht, erinnerte sie ihn doch in seinen Augen stets und ständig schmerhaft daran, daß er mit seinem kindischen Weihnachtswunsch die eigentliche Schuld am Tod seiner Eltern trug. Ohne ihn hätten seine Mutter und sein Vater vielleicht noch viele lange Jahre glücklich miteinander leben können!

Svennsons Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die nicht weniger bedrückende Gegenwart zurück. Und aus den Tiefen seines Unterbewußtseins stieg dabei langsam ein düsterer Gedanke auf. Es war ein Gedanke, den der jetzt sonst stets hoffnungsvoll und optimistisch auf das Leben schauende Ex-Inspektor längst überwunden zu haben glaubte, und den er doch wie alle Menschen nur ganz tief in seinem Innern stets wieder abrufbereit schlummern hatte: Die Frage, ob es nicht vielleicht für ihn und alle seine Mitmenschen um ihn herum besser gewesen wäre, wenn er niemals das Licht der Welt erblickt hätte. Zumindest stünde er jetzt nicht von allen guten Geistern verlassen mutterseelenallein an diesem Fenster. Und sicher würde seine Yelena nicht verschwunden sein, sondern wie an jedem anderen Morgen vor ihrem Zusammentreffen im Yard die Flure wischen und dabei mit ihrem bezaubernden Stimmchen eines ihrer wundervollen russischen Volkslieder vor sich her trällern. Ja, und was all die anderen Menschen in seinem Umfeld angeht - die wären ohne seine Exixtenz bestimmt auch besser, zumindest aber wohl kaum schlechter dran als mit ihr.

Svensson öffnete schlagartig die Augen wieder und starrte mit leerem Blick in die Tiefe. Er brauchte sich nur noch ein wenig vorzubeugen, und er war von einer Sekunde auf die andere erlöst von all den Seelenschmerzen, die ihn in diesem Moment so sehr peinigten. Eine tiefe, diabolische Stimme begann im gleichen Augenblick, monoton und mit stetig ansteigender Lautstärke eine düstere Anweisung in seinen Kopf zu hämmern, die nur aus einem einzigen Wort bestand: SPRING! Und dabei wußte diese teuflische Stimme nur zu genau, daß Lukas Svensson zu diesem Zeitpunkt am ehesten bereit war, ihrer selbstzerstörerischen Aufforderung Folge zu leisten. Und so lehnte sich Lukas in seiner Verzweiflung immer weiter nach vorn, bis er schließlich den Boden unter den Füßen zu verlieren begann ...

Im letzten Moment verdrängten zwei andere, weitaus hellere und lieblichere Stimmen die hämmernde Stimme in seinem Kopf und ließen seinen Oberkörper schlagartig wieder ins Zimmer und damit gleichzeitig ins Leben zurückschnellen. Lukas drehte sich auf der Stelle um und entdeckte hinter dem blauen Sofa stehend zwei weiße Gestalten. Sie erschienen in einen strahlend hellen Schein gehüllt, welcher seine Augen zunächst sekundenlang blendete. Erst als Svensson seine Handflächen schützend vor die Stirn hielt, konnte er blinzelnd erkennen, was ihm die aus der fernen Vergangenheit nur allzu bekannten Stimmen bereits zuvor verrieten und was er dennoch nicht zu glauben gewagt hatte: Bei den beiden, wie aus dem Nichts Aufgetauchten handelte es sich um niemand anders als um seine verstorbenen Eltern.

Links stand seine Mutter in ihrem weißen Hochzeitskleid, ihm die Hände entgegenstreckend, mit Tränen in den Augen. Ihr Äußeres wirkte keineswegs gealtert, sie war noch genauso jung und wunderschön, wie er sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Rechts neben ihr stand sein Vater im schicken schwarzen Anzug und nickte ihm freundlich zu - die Hände andächtig in den Schoß gelegt, so wie er es zu Lebzeiten stets getan hatte, wenn er im alten Schaukelstuhl am Ofen seinen Mittagsschlaf zu halten geruhte. Lukas schossen erneut die Tränen in die Augen, Tränen der Rührung und der unverhofften Wiedersehensfreude. Wie oft hatte er sich im Stillen diesen Moment herbeigesehnt, wie viel hatte er doch seinen Eltern noch zu sagen. Ihm war in diesem Augenblick völlig egal, ob das hier alles real war oder nur seinem durch Schmerz und Traurigkeit in die Irre geführten Hirn entsprang. Er löste sich von seinem Standpunkt und rannte seiner Mutter in die offenstehenden Arme, in denen er sich dann einfach fallen ließ - wie als kleiner Junge sank er vor ihr in die Knie und legte sein eben noch so lebensmüdes Haupt vertrauensvoll in ihren Schoß, während er ihre sanften Hände über seinen Kopf streicheln spürte. Dabei legte sich ihre heilsame Stimme wohltuend wie Balsam auf die tiefen Wunden seiner angeschlagenen Seele: "Lukas, mein Söhnchen! Es ist schön, Dich endlich wieder einmal bei mir zu haben. Groß und erwachsen bist Du geworden, gütig und weise wie Dein Vater!" Joseph räusperte sich neben ihr geschmeichelt und ergänzte seinerseits mit der vertrauten tiefen Baßstimme: "Ja, und dabei ebenso freundlich, liebevoll und warmherzig wie Deine Frau Mama!"

Maria Svensson nickte zustimmend: "Ja, Lukas, wir haben Dich in all den Jahren auf Schritt und Tritt unsichtbar begleitet. Wir haben gesehen, wie sehr Du unter unserem Verlust gelitten hast und wie Du Dich trotz all den Rückschlägen in Deinem Leben zu einem wunderbaren Menschen und zu einem leidenschaftlichen Hüter der Gerechtigkeit entwickelt hast". Und wieder ergänzte Vater Joseph: "Mein Sohn, wir sind sehr stolz auf Dich! Und darum sind wir auch heute hier erschienen. Weil es nicht richtig wäre, wenn Du Dein Leben einfach so wegwerfen würdest! Deine Zeit ist noch nicht gekommen, Du wirst hier noch gebraucht! Gott hat noch einiges mit Dir vor!" Lukas erhob seinen Kopf aus dem Schoße seiner Mutter und sah seinen Vater ein wenig ungläubig an: "Dad, ihr sagt doch, ihr hättet mich stets begleitet?! Dann müßt ihr doch auch am besten verstehen, was gerade in mir vorgeht. Seht euch doch um! Ich hab alles verloren! Ihr seid gestorben, meine Tochter lebt bei ihrer Mutter, von der ich mich vor langem getrennt habe. Sie wird in Kürze ihr eigenes Leben leben, für das sie mich ganz gewiß nicht mehr braucht. Und ich war noch nicht einmal wirklich dabei, als sie aufwuchs. Was bin ich denn dann in ihren Augen überhaupt für ein Vater?! Und jetzt, da ich endlich hoffte, ein neues Glück gefunden zu haben, jetzt ist meine Yelena auch noch weg - verschwunden oder entführt! Wie auch immer: Wäre sie mir nir begegnet, würde es ihr sicher besser gehen - genauso wie es vielen anderen Menschen sicher besser ginge, wenn ich nie in ihr Leben getreten wäre?! Was bitteschön hab ich kleines Licht denn schon großartig verändert mit meinem kleinen unscheinbaren Dasein? Ich kleines Rädchen hab doch in Wirklichkeit fast nichts an positiven Veränderungen auf dieser Welt bewirkt! Und darum hätte es genauso wenig geändert, wenn ich nie geboren wäre, wie es etwas ändern würde, wenn ich jetzt einfach aus dem Leben scheide! Außer daß damit endlich dieser verdammte Schmerz aufhören würde, der mir seit Stunden wie schon damals nach Euren plötzlichen Tod fast das Herz zerreißt!"

Maria Svensson riß ihre Augen weit auf und schüttelte in heller Aufregung den Kopf hin und her: "Nein! Nein! Nein! Lukas, Du hast ja gar keine Ahnung, was Du da sagst! Die momentane scheinbare Ausweglosigkeit versperrt Dir ja völlig jenen Weitblick, der Dich doch sonst so auszeichnet! Es ist höchste Zeit, daß jemand Deine Augen wieder öffnet für die Wahrheit! Und genau aus diesem Grunde sind wir Dir heute erschienen! Wir nehmen Dich jetzt auf der Stelle mit auf eine Reise - eine Reise in eine mögliche Zukunft, eine Reise durch die ersten 24 Dezembertage dieses Jahres 2009! Nur mit dem - wie Du es ausdrückst - völlig unerheblichen Unterschied, daß Du nie geboren wurdest. Laß uns doch einmal schauen, ob Deine Existenz wirklich so rein gar nichts zu verändern vermochte im Leben Deiner Familie, Deiner Freunde und all Deiner Mitmenschen! Komm nur, das erste Türchen wartet schon auf uns ...

Damit erhoben sich beide Elternteile zeitgleich von ihren Plätzen. Lukas blieb noch einen Moment hocken und starrte ihnen nach, wie sie in den Flur entschwanden, wo sie auf dann seine - nun ebenfalls in einen hellen Lichtschein gehüllte - Wohnungstür zugingen, in deren Mitte sich augenblicklich eine goldfarbene Ziffer 1 abzeichnete. Nur eine Sekunde später drückte Joseph Svensson langsam die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt weit, worauf erst Maria und dann auch er hindurchschritten und damit nun endgültig entschwanden. Jetzt endlich erhob sich auch der Ex-Inspektor und begab sich in den Flur, wo jene leuchtende Tür auf ihn zu warten schien. Er war schon im Begriff, seinen Eltern zu folgen, als er aus dem Licht heraus wie von ganz weit her die sanfte Stimme seiner Mutter vernahm: "Ach Lukas, zieh Dir doch bitte etwas über und vergiß auch Deinen Regenmantel nicht! Es ist nämlich kalt draußen, mein Junge! Nicht, daß Du Dir noch einen Schnupfen holst!". Folgsam lief Lukas noch einmal ins Schlafzimmer seiner Wohnung, wo er Jeans, Poloshirt und Socken aus dem Schrank entnahm und sich damit im Eiltempo einkleidete. Dann schlüpfte er im Flur noch rasch in seine Halbschuhe und griff im Vorbeilaufen von der Flurgaderobe seinen Trenchcoat, den er sich rasch überwarf, während er sich auf zittrigen Beinen durch die Tür hindurch ins Licht begab - gespannt, was ihn auf jener angekündigten mysteriösen Reise wohl alles erwarten würde ...

Türchen No. 01: Die Frau mit dem Kainsmal - BITTE ANKLICKEN!

Sekundenlang war Lukas Svensson mit einem Gefühl völliger Schwerelosigkeit in dem strahlendweißen Lichttunnel quasi durch Zeit und Raum geschwebt, bevor seine Füße am anderen Ende jenes geheimnisvollen Türchens wieder festen Boden berührten. Das magische Kribbeln, daß ihm dabei in die Glieder gefahren war und in auf eine angenehme Weise förmlich berauscht hatte, gab seinem Körper eine wohltuende Schwere, welche ihn im Einklang mit den aufgrund der Grellheit des Lichts geschlossenen Augen fast hätte zum Einschlafen verführen mögen. Was ihn nun allerdings vom sanften Entschlummern Abstand nehmen ließ, war die gleichermaßen durch Mark und Bein gehende schaurige Gesangsdarbietung eines scheinbar liebestollen pechschwarzen Katers, der auf jener Mauer, die sich - lediglich durch ein kleines gußeisernes Türchen zu seiner Linken - nun unmittelbar vor Lukas und seinen Eltern erhob, seiner angebeteten Katzendame in hellsten Tönen all seinen Jammer zum Besten gab.

Svensson schaute sich ein wenig genauer um. Links und rechts erstreckte sich, so weit man es in der Abenddämmerung erkennen konnte, jenes gut verputzte Mauerwerk, über dessen Krone hinweg er - nachdem er ein paar Schritte zurückgetreten war - die gespenstisch wirkende Silhouette eines großen backsteinernen Gemäuers erspähte, dessen eisenvergitterte Fensterreihen es ihm augenblicklich als ein Gefängnis identifizierten. Verdutzt blickte er seine Eltern an, erst seinen Vater, dann seine Mutter, schließlich erneut seinen Vater. Und mit den Schultern zuckend fragte er ihn: "Was soll ich denn hier? Was um Himmels willen hat denn das mit der Frage zu tun, was gewesen wäre, wenn ich nie geboren wäre?" Milde lächelnd richtete seine Mutter den Zeigefinger ihrer rechten Hand auf das vierte Fenster in der zweiten Reihe und meinte dann in ruhigem Ton zu ihrem Sohn: "Nun, Lukas, schau einmal genauer hin. Vielleicht entdeckst Du hinter diesen Gitterstäben ja ein bekanntes Gesicht".

Lukas bemühte sich, aber es dauerte noch einen Moment, bis sich seine Augen vollständig an das schummrige Halbdunkel der Umgebung gewöhnt hatten und er an jenen Gitterstäben die zierlichen Hände und das Gesicht einer Frau erkennen konnte. Erst als wenige Sekunden später ein schwenkbarer Scheinwerfer auf dem Gefängnishof über das Gitterfenster huschte, gelang es Svensson schließlich zu erkennen, in wessen von Kummer und Resignation gezeichnete glanzlose Gesicht er da sah. Blankes Entsetzen durchfuhr seine Glieder. Aber das war doch nicht möglich! Und während er sich gleichzeitig wild mit beiden Fäusten über seine Augen rieb, so als ob dies alles nur eine optische Täuschung sein könne, richtete sein Vater - die Gdanken seines Sohnes erratend - das Wort an ihn: "Glaub es nur, Lukas! Sie ist es! Cathrin Napolitani, Häftlingsnummer 720124, verurteilt zu 24 Jahren Haft wegen des Mordes an ihrem Ehemann Steven". Lukas rang kopfschüttelnd um seine Fassung: "Aber wie kann denn das sein! Ich hab doch die Tatwerkzeuge eigenhändig beseitigt und die Aussage des Zugbegleiters vernichtet! Wie um alles in der Welt, konnte man sie denn da noch überführen?"

Maria Svensson meldete sich zu seiner Rechten zu Wort: "Du verstehst offensichtlich noch nicht ganz, worum es sich hier handelt. Das hier ist keineswegs jener 1. Dezember des Jahres 2009, wie Du ihn in Kürze erleben wirst, sondern eine parallele Abart des selben Tages, in der alles so erscheint, wie es sein würde, wenn es Dich, mein Liebling, niemals gegeben hätte. Und so bekam an Deiner Stelle ein gewisser Inspektor Powerich den Mordfall Napolitani zugeteilt, der ähnlich akribisch wie Du ermittelte und den seine Ermittlungen ebenso bald auf die Spur der zwei Frauen führten. Zunächst konnte er keiner der Beiden etwas nachweisen, bis ihm am Morgen des 12. Novembers der Zufall zu Hilfe eilte. In der Al-Meida-Street 89 war eine Wasserleitung geplatzt, wobei das ausströmende Wasser auch die Grundstücke der Nachbarschaft überschwemmt hatte. Cathrin war zu dieser Zeit arbeiten, Jane weilte bei ihrem Frauenarzt zu einer Untersuchung. Die angerückte Feuerwehr bemühte sich sofort um das Abpumpen der Wassermassen, wobei sie im aufgeweichten Erdreich nahe dem Gartenteich jene unheilvolle Plastiktüte mit den zwei blutverschmierten Küchenmessern freispülte, die der herbeigerufenen Polizei nun auch den langersehnten Beweis für eine Anklage der beiden Frauen lieferte. Die Verhandlung dauerte ganze drei Gerichtstage und wurde von der Öffentlichkeit mit Interesse verfolgt. Cathrin nahm hierbei, um ihre Freundin Jane zu schützen, alle Schuld sofort und komplett auf sich, was sie im Lichte der Außenstehenden als ein eiskaltes, berechnendes Monster erscheinen ließ und dem Richter das Verhängen eine milderen als der Höchststrafe praktisch unmöglich machte. Und so wird sie nun den Großteil ihres Lebens einsam eingesperrt hinter diesen Mauern verbringen und im Jahre 2030 frühzeitig wegen guter Führung und dennoch als sichtlich gebrochener Mensch das Gefängnis verlassen, um mit ihren dann fast 70 Lenzen in der Abgeschiedenheit der kanadischen Wildnis einsam und verlassen ihre letzten trostlosen Jahre zu verbringen".

Eine einsame Träne rann Lukas bei dem Gehörten über die linke Wange. Und leise schluchzend fragte er: "Einsam und verlassen? Aber was ist denn aus ihrer Jane und dem kleinen Luke geworden? Warum sind die Beiden denn nicht bei ihr? Hat Jane ihre große neue Liebe denn nie im Gefängnis besucht? Wo ist sie eigentlich? Könnt ihr mir das nicht bitte sagen?" Joseph Svensson nickte und erwiderte dann sichtlich ein wenig bedrückt: "Wir können Dir das nicht nur sagen, wir werden es Dir sogar zeigen, wenn Du mit uns durchs nächste Türchen begibst". Lukas schaute nach links, wo die eben noch leicht rostig schimmernde, unansehnliche Eisentüre inzwischen auch vom jenem hellichten Schein umhüllt wurde, der ihm schon von seiner Wohnzimmertür vertraut war, und in dessen Mitte in diesem Augenblick gerade eine goldene Zwei aufzuleuchten begann.

Ein wenig unsicher sah der Ex-Inspektor noch einmal in Richtung des Fensters, durch dessen Gitter Cathrin gedankenversunken ins Leere der Nacht starrte und winkte ihr mit der rechten Hand zaghaft zum Abschied zu. Zu seiner Linken hörte er im selben Moment die Stimme seines Vaters, die ihm nur bestätigte, was er ohnehin schon geahnt hatte: "Nein, mein Junge, die Menschen, denen Du auf unserer Reise begegnest, können Dich weder sehen noch hören". Bedrückt ließ Lukas seinen Arm wieder sinken, und Marie und Joseph nahmen ihn in ihrer Mitte stillschweigend an die Hände. Und gemeinsam durchschritten sie das - sich wie von Geisterhand öffnende - Türchen ...

Türchen No. 02: Seelische Wunden - BITTE ANKLICKEN!

Die drei Svenssons fanden sich in einem langen Flur wieder, der seinem Besucher trotz seiner warmen Farbtöne und den vielen wunderschönen Bildern an der Wand irgendwie sofort erahnen ließ, daß man sich in einer Art Krankenhaus befand. Untermauert wurde dieser Eindruck vor allem auch durch den Geruch, der wohl eine Mischung aus Fliederraumspray und alkoholischer Desinfektion darstellte, und durch den Thresen, vor dem Lukas und seine Eltern gelandet waren und hinter dem sich eine junge Frau und ein junger Mann in ockerfarbenen Kitteln miteinander unterhielten.

Der junge Mann hatte eine Patientenakte in der Hand, in der er las, wobei er schließlich kopfschüttelnd bemerkte: "Armes Ding! Hat in ihrem noch so jungen Leben nahezu alles verloren, was sie liebte. Ihre leibliche Mutter gab sie kurz nach ihrer Geburt zu Pflegeeltern, die dann beide bei einem tragischen Segelunfall ums Leben kamen. Dann verlor sie ihren Geliebten und wenig später ihre neue große Liebe, weil die sich als die kaltblütige Mörderin ihres Freundes herausstellte, von dem sie zu allem Überfluß auch noch schwanger war. Kein Wunder, daß ihre verletzliche junge Seele dabei abgrundtiefe Risse bekam. Sicher hat sie für sich und das ungeborene Kind nach all dem einfach keinen anderen Ausweg mehr gesehen als jenes - endlich wieder innere Ruhe und ewigen Frieden verheißende - Glasröhrchen mit den Schlaftabletten in ihrem Badezimmer. Und damit, daß der ermittelnde Beamte gerade zu dieser Zeit noch eine abschließende Frage an sie haben und ihr daher einen Besuch abstatten würde, konnte sie ja wirklich nicht rechnen. Der herbeigerufene Notarzt rettete dann zwar ihr Leben, aber leider nicht das ihres Sohnes. Und so wurde der ohnehin schon so schmerzliche Verlust nur noch erdrückender. Die Last auf ihrer Seele schwoll mit einem Male so an, daß ihr Inneres daran nun gänzlich zugrunde ging! Ist doch so, oder, Emmy?"

Die junge Frau nickte bedrückt: "Ja, Du hast sicher recht, Oscar! Jetzt erträgt sie ihr Dasein nur noch unter ständiger Einnahme starker Psychopharmaka. Gestern mußte Frau Doktor Noble-Price die Dosis sogar schon wieder erhöhen, weil die Patientin trotz des Sedativums so starke Eigenaggressionen entwickelte, daß sie sich selbst zu kratzen und zu beißen begann. Begleitend wurde sie zum Eigenschutz verlegt in einen unserer Kriseninterventionsräume". Der junge Mann mußte ein wenig schmunzeln: "Emmy, wir sind hier unter uns! Da darfst Du ruhig Weichzelle oder Gummizelle sagen".

In diesem Moment baute sich vor dem bedächtig lauschenden Lukas Svensson eine große Frau in einem blaugepunkteten Nachthemd mit zerzaustem Haaren und einem schwarzen Plüschkater im Arm auf. Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen in seine Richtung. Dann richtete sie langsam grinsend den Zeigefinger auf ihn und beugte sich dabei gleichzeitig zum Ohr ihrer Stoffkatze, der sie leise zuflüsterte: "Schau mal, Kleiner! Der Onkel da ist ein Spion, der hört ganz genau zu, was sich die beiden Weltraumforscher unterhalten. Dann geht er mit seinen beiden Begleitern wieder zurück in sein Labor und bastelt sich eine Rakete. Und mit der fliegt er dann zum Mond und zu den vielen kleinen Sternen, die ich Dir abends immer zeige! Aber psst, nichts verraten, sonst nimmt uns der liebe gute Onkel nämlich nicht mit. Und dann kommen wir beide hier nie weg, weißt Du?!" Damit gab sie ihrem kuschligen Freund einen Kuß auf seine Fellwange und lief ganz gemütlich vor sich herpfeifend weiter. Lukas sah verdutzt auf seine Mutter, die ein wenig unsicher die Schultern hochzog: "Keine Ahnung, mein Sohn! Das passiert eben manchmal. Uns kann zwar keiner sehen - aber Kinder, Betrunkene und psychisch kranke Menschen können unsere Anwesenheit scheinbar immer wieder mal erahnen".

Im gleichen Augenblick tippte Joseph Svensson seinem Sohn auf die Schulter und sagte: "Komm, Sohnemann, Du solltest noch einen Blick auf Deine Bekannte werfen, bevor wir wieder weiter müssen". Damit ergriff er seinen Sohn an der Hand und zog ihn mit sich mitten durch eine der steinernen Wände hindurch. Dabei beschlich Lukas beim Durchschreiten der Wand kurzzeitig ein beklemmendes Gefühl, das aber sofort wieder verschwand, während er sich nun im schaurigen Halbdunkel einer nach allen Seiten hin abgepolsterten Zelle wiederfand. In einer der Ecken kauerte, ebenfalls in eines dieser blaugepunkteten Nachtgewänder gehüllt, eine junge Frau, in der Lukas sofort Jane wiedererkannte - jene kleine Jane, die ihn schon damals beim ersten Zusammentreffen im Hause Napolitani fasziniert hatte. Er hatte sofort eine innere Verbundenheit gespürt, die er sich bis heute nicht erklären konnte. Und während er jene Verbundenheit auch jetzt wieder fühlte, war die Faszination gänzlich verschwunden. Sie wich vielmehr schlagartig einem Gefühl tiefempfundenen Mitleids mit der jämmerlichen Gestalt, der er nun gegenüberstand.

Lukas vernahm aus der Richtung dieses menschlichen Knäuls ein leises Wispern. Und als er sich ein wenig zu Jane herabbeugte, vernahm er ihre weinerliche Stimme: "Schlaf, Kindchen, schlaf. Die Mama ist ganz brav. Der Papa kommt gleich wieder, ruht unterm weißen Flieder. Die Tante Cathrin hat uns lieb, auch wenn sie lange ferne blieb! Schlaf, Kindchen, schlaf!" Das ohnehin zaghafte Stimmchen verstummte gänzlich und wich einem lauten Schluchzen. Es war ein ansteckendes Schluchzen. Denn auch Lukas und seiner Mutter schossen unmittelbar die Tränen in die Augen, während Joseph Svensson sich für eine Sekunde die Augen rieb und dann entschuldigend erklärte, ihm sei wohl ein Staubkorn hineingeflogen, das er weggewischt habe. Maria, die weinend neben ihm stand, nahm ihn kopfschüttelnd in den Arm: "Alter Brummbär! Schämst Dich immer noch, wenn mal die Gefühle mit Dir durchgehen! Und dabei lieb ich Dich doch genau deswegen so sehr, weil Du zu zeigen vermagst, wenn Dich etwas berührt". Und damit küßte sie ihm gleichzeitig die letzten salzigen Überbleibsel seines verschämten Gefühlsausbruchs unter den Augen weg.

Joseph lächelte ihr kurz zu und raunte: "Ich hab Dich auch lieb, mein Mariechenkäferchen!" Dann räusperte er sich kurz und wandte sich Lukas zu: "So, Sohnemann! Und für uns ist es jetzt Zeit weiterzureisen. Viele vertraute Gesichter warten noch auf Dich: Mehr oder minder mächtige Männer, dunkle Schattengestalten und auch ein paar Frauen und Kinder! Laß uns gehen!" Die weichgepolsterte Zellentür begann, warm zu leuchten, wobei Lukas in ihrem Guckloch deutlich die Ziffer Drei zu erblicken glaubte. Und während die Svenssons in das Licht gingen, erhob die zusammengekauerte Jane für einen Moment ihr stark sediertes, schweres Köpfchen und flüsterte: "Danke für Ihren Besuch, mein unbekannter Freund! Ihre Tränen und Ihr ehrliches Mitgefühl waren Balsam für meine verwundete Seele! Ich weiß, daß ich dieses Haus hier nie mehr lebend verlassen werde, und doch hab ich jetzt stets Ihr Bild als Trost in mir - eine Momentaufnahme des Glücks und der tiefen Verbundenheit zwischen uns Beiden! Ein Lichtschein in der ewigen Finsternis, ein wärmender Sonnenstrahl im ewigen Eis" ...

Türchen No. 03: Ein Schiff wird kommen - BITTE ANKLICKEN!

So langsam gewöhnte sich Lukas an das merkwürdige Gefühl, daß das Schweben durch Raum und Zeit in einem auslöste. Ja, er genoß es inzwischen sogar - dieses Kribbeln und die zugehörige Schwerelosigkeit - indem er seine Augen schloß und sich dabei vorstellte, als Astronaut zu dem Sternen zu fliegen. Zum Greifen nah schienen sie ihm in seiner Phantasie. Erst als er die Augen wieder aufschlug, entfernten sie sich schlagartig aus seinem Zugriffsbereich und kehrten an den mondhellen Nachthimmel zurück.

Lukas gönnte seinen Pupillen einen Moment, sich an die ihn umgebende Dunkelheit zu gewöhnen, und schaute sich dann genauer um. Scheinbar standen sie irgendwo am Ufer der Themse mitten auf dem Londoner Hafengelände. Weit entfernt nahm er nun auch die nächtliche Silhouette der Tower Bridge wahr und mußte dabei irgendwie sofort an Francesca Scampi denken - das arme junge Mädchen, das eben dort verzweifelt seinem Leben ein so schrecklich frühes Ende gesetzt hatte. Vor seinem geistigen Auge erschien im gleichen Moment ihr zauberhaftes Gesicht. Lukas rieb sich ungläubig die feucht werdenden Augen. Doch Francescas Bild verschwand dadurch nicht, wie er angenommen hatte. Erst jetzt begriff er, daß sie ihm nicht als Trugbild sondern höchst real gegenüberstand.

Der Ex-Inspektor begann angesichts dieser Tatsache, innerlich zu jubeln. Und diese innerliche Freude verlangte förmlich danach, auch nach außen getragen zu werden, so daß Lukas noch im selben Augenblick seiner verdutzten Mutter um den Hals fiel und schrie: "Sie lebt! Mutter, sieh doch, sie lebt! Francesca ist nicht tot! Hab ich es nicht gesagt: Es gibt Menschen, die besser dran sein würden, wenn ich nie geboren wäre!". Doch Maria Svensson stand nur weiter wie versteinert da und schüttelte traurig den Kopf: "Besser? Schau sie Dir doch erst einmal genauer an, Lukas!"

Verunsichert entließ Lukas seine Mutter wieder aus seiner Umklammerung und warf noch einmal einen genaueren Blick auf Francesca, wobei von einer Sekunde auf die andere auch aus seinen Augen das begeisterte Leuchten wieder verschwand. Die blasse Francesca stand leichtbekleidet mit hängenden Schultern da und trat am ganzen Leibe zitternd von einem Bein auf das andere. Unter dem spärlichen Stoffetzen, der ihren einst so zauberhaften Körper verhüllte, zeichnete sich dabei eine bedauernswerte Gestalt ab, die förmlich nur noch aus Haut und Knochen bestand und sicher kaum mehr als 30 Kilo auf die Waage zu bringen vermochte.

Lukas sah seine Mutter an, die Tränen in den Augen hatte, und fragte bedrückt: "Sag mal, Mum, was tut die Ärmste eigentlich hier - um diese Zeit und in diesem unpassenden Aufzug? Sie wird sich bei der Kälte noch den Tod holen!" Maria Svensson blickte zu ihrem Jungen herüber und antwortete: "Weißt Du, Söhnchen, ich glaub, davor hat sie im Moment die allerwenigste Angst. Ich glaube auch gar nicht, daß sie so sehr vor Kälte zittert als vielmehr aus Angst vor dem, was sie erwartet. Man hat sie nämlich vor ein paar Tagen auf einer Art Auktion für stolze 2,4 Millionen Euro an einen ägytischen Scheich verkauft, der sie bei sich zuhause in seinem Harem bei seinen anderen 23 Frauen verschwinden lassen wird. Und dort wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach ständiger Gewalt und permantenter Erniedrigung ausgesetzt sein, wenn man dem Glauben schenken darf, was man aus Fachkreisen so über ihren neuen Besitzer hört. Wenn man einem echten Sadisten völlig schutzlos ausgeliefert ist, dann kann einem doch gewiß schon Angst und Bange werden, oder?! Und eine seelisch wie körperlich so zerbrechliche Gestalt wie die kleine Francesca wird das mit Sicherheit über kurz oder lang das Leben kosten. Es wird ein qualvolles, langwieriges Dahinsichen für sie werden, an dessen Ende ihr der Tod dann wie eine einzige Erlösung vorkommen wird ... Und nun, mein Sohn, entscheide selbst, ob das für sie wirklich um so vieles besser ist als jenes Schicksal, welches sie zu Deinen Lebzeiten gewählt hatte!"

Lukas schüttelte deprimiert den Kopf. Nein, ganz im Gegenteil: Das war ja noch viel schlimmer als alles, was ihr in Wirklichkeit zugestoßen war. Gedankenversunken hörte er nicht einmal das Nebelhorn, welches in diesem Moment das Anlegen eines riesigen Passagierschiffs namens "Tita Nick II" begleitete. Er nahm auch nicht wahr, wie sein Vater die Aussage seiner Mutter noch ergänzte, indem er nüchtern feststellte: "Und das, was wir Dir bis jetzt gezeigt haben, Junge, ist alles erst die Spitze des Eisberges, wenn es darum geht herauszufinden, was wäre, wenn es Dich nie gegeben hätte. Glaub mir, es wird noch schlimmer, viel schlimmer!". Francesca Scampi aber hatte sich unterdess auf das Schiff begeben, welches wenige Augenblicke später wieder ablegte und sie dann auf unruhiger See dahinschaukelnd in eine düstere Zukunft beförderte. Erst als das Schiff schon fast am Horizont verschwunden war, kam auch der geistesabwesende Lukas wieder zu sich, mit Tränen in den Augen.

Joseph Svensson ergriff im nächsten Moment kurzerhand den linken Arm seines Sohnes und zog ihn mit sich bis an den Rand der Kaimauer. Gemeinsam mit Lukas beugte er sich über das dortige Geländer hinweg und ließ einen Augenblick später einen kleinen, aus der Brusttasche seiner Anzugjacke entnommenen Kieselstein ins Wasser fallen. Der Stein versank plätschernd und hinterließ dabei auf der Wasseroberfläche eine sich kreisförmig ausbreitende Welle. Im Angesicht dieses physikalischen Schauspiels sprach Vater Svensson zu seinem Jungen: "Siehst Du, mein Sohn, wie dieser kleine unscheinbare Stein auf dem Wasser große Wellen schlägt?! Genauso verhält es sich mit Deinem kleinen unscheinbaren Leben. Deine Existenz zieht Kreise, große und bedeutende Kreise - und das oftmals, ohne daß Du es selbst je erfährst! Du verstehst nicht ganz, was ich damit meine?! Nun, die nächsten drei Stationen unserer Reise werden es Dir anschaulich demonstrieren. Bist Du bereit?". Entschlossen die Tränen aus den Augen wischend erwiderte Lukas: "Ich bin zu allem bereit! Bringt mich nur bitte rasch weg von hier! Wo ist die nächste Tür?"

Maria Svensson, die ein wenig abseits zurückgeblieben war, beantwortete die Frage ihres Sprößlings, indem sie auf eine kleine Eisentür im Maschendrahtzaun eines angrenzenden Grundstücks wies. Hinter der Umzäunung lag offenbar ein privater Bootsschuppen, über dessen schmiedeeisernem Tor ein handgemaltes Schild in großen schwarzen Buchstaben verkündete: "Lagerplatz der Black Cat XXIV". Im Gras vor der Schuppenwand flackerte eine einsame Kerze im Wind - jenem eisigen Wind, der auch durch die vielen Ritzen des Mauerwerks pfiff und dabei in Lukas' Ohren eine Art vertraute Melodie erzeugte. Lukas Hirn brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis es der mysteriösen Melodie des Windes den entspechenden Songtext zuordnete: "And it seams to me, you lived your life like a candle in the wind".Jene traurigschöne Melodie andächtig vor sich her summend, ging Lukas - von erwachender Neugierde getrieben - auf den spärlichen Kerzenschein zu und durchschritt dabei die Eisentür, in deren Klinke deutlich spürbar 4 gleichmäßige Kerben eingeritzt waren. Seine Eltern folgten ihm in gebührendem Abstand, während in einiger Entfernung die Glocken Big Bens mit zwölf deutlich hörbaren Schlägen Mitternacht verkündeten ...

Türchen No. 04: In stillem Gedenken - BITTE ANKLICKEN!

Irgendeine dunkle Vorahnung ließ Lukas' Körper erschaudern, je mehr er auf das Kerzenlicht zuging. Und dennoch trieb ihn gleichzeitig genau jene unheilvolle Ahnung Schritt für Schritt immer weiter in Richtung des mysteriösen Flackerlichts. Schließlich stand er gemeinsam mit seinen Eltern genau davor und konnte nun erkennen, daß sich rings um jene einzelne brennende Kerze noch mehrere bereits verloschene Kerzen befanden, eingerahmt von Unmengen bunter Blumen und kleinen beschriebenen Zettelchen. In der Mitte des ganzen Arrangements aber stand, an die Schuppenwand gelehnt, in einem Holzrahmen das Foto eines jungen Mannes, welches am linken oberen Rand einen schwarzen Trauerflohr trug. Der Ex-Inspektor beugte sich ein wenig vor, um das Gesicht auf dem Foto genauer zu betrachten und wich dabei nur Sekundenbruchteile später erschrocken zurück. Oh, mein Gott, den Mann auf dem Bild kannte er doch, es war Phillip ... Sergeant Phillip Young von der Londoner Wasserschutzpolizei, den er bei Francescas Leichenfund am Themseufer kennengelernt und nur wenige Tage später spontan zu seinem Junggesellenabschied eingeladen hatte. Was um alles in der Welt war nur mit ihm geschehen?

Vater Svensson griff die unausgesprochene Frage auf und erklärte im Stile des offiziellen Polizeiberichts: "Sergeant Young war am Abend des 20.August 2009 gegen 19.30 Uhr wie üblich zu seinem Streifengang durchs Hafengelände aufgebrochen, wo er gegen 20.15 Uhr aus einem Bootschuppen heraus verdächtige Geräusche vernahm. Er betrat das Gebäude und traf dort im Halbdunkel drei Männer an, die offensichtlich dabei waren, ein Dutzend kleiner verschweißter und mit einem weißen Pulver gefüllter Plastiktütchen im Rumpf eines Bootes zu verstecken. Als Sergeant Young die Verdächtigen zur Rede stellte, ergriff einer von ihnen ein bereitliegendes Messer und stach damit auf den Beamten ein. Die Verbrecher flüchteten und ließen den schwerverletzten Phillip Young im Bootsschuppen zurück. Durch den hohen Blutverlust trat bei ihm in der Folge gegen 22.00 Uhr der Tod ein, kurz nachdem er zufällig von einem Obdachlosen auf dessen Suche nach einem Nachtquartier gefunden worden war. Sergeant Young hinterläßt eine Verlobte und eine vierjährige Tochter ...". Ergänzend deutete Mutter Maria in diesem Moment auf eine Kinderzeichnung, die eine traurige Frau zeigte mit einem kleinen, weinenden Mädchen an der Hand und einer kleinen schwarzen Katze neben sich, während in einigem Abstand ein Mann den Dreien zuzuwinken schien. Und darunter stand mit zittigen Buchstaben geschrieben der Satz: "Dein Schatz Clara und Deine kleine Vivian vermissen Dich so sehr!".

Lukas Svensson schüttelte den Kopf und schaute dabei verständnislos auf seinen Vater: "Der 20.August sagst Du?! Aber wie kann denn das sein? Das war doch der Abend meines Junggesellenabschieds. Da hatte doch Phillip gar keinen Dienst, sondern feierte mit mir und den anderen Jungs im 'My Redemption'!" Joseph Svensson aber erwiderte bedrückt: "Mein Junge, es gab doch gar keine Feier, weil es Dich doch gar nicht gibt. Und so mußte Phillip an jenem Abend auch nicht seinen Dienst tauschen, verstehst Du?!". Lukas verstand. Durch seinen Diensttausch war Phillip, ohne es zu ahnen, seinem sicheren Tod entgangen. Und der Kollege, der mit ihm den Dienst tauschte, hatte sicher einen ganz anderen Zeitplan für seinen Rundgang durch den Hafen gehabt und daher jene drei Drogenschmuggler auch gar nicht erst überrascht. Sein Vater hatte also Recht gehabt. Es gab Dinge, die er - Lukas Svensson - mit seinem kleinen unbedeutenden Leben zu ändern vermocht hatte und die ihm im Einzelfall oft gar nicht bewußt waren.

Je mehr er dabei über Phillips Schicksal nachdachte, welches ihm erneut das Wasser ins Auge trieb, desto mehr schweiften seine Gedanken ab in die Richtung einer ganz anderen Frage - einer Frage, die ihm als ehemaligem Polizisten unter den Fingernägeln zu brennen begann und die in ihm gleichzeitig eine Mischung aus Ohnmacht und Wut hochsteigen ließ. Wer hatte Phillip und seinen Hinterbliebenen das angetan? Was mußte das für ein Mensch sein, der einen jungen Polizisten in der Blüte seines Lebens einfach so niederstoch und dann völlig skrupellos verbluten ließ? Mutter Svensson erahnte auch diesen Gedanken ihres Sohnes. Sie klopfte ihm sanft mit dem Finger auf die Schulter und flüsterte: "Was das für ein Mensch ist, das sollst Du gleich erfahren, mein Söhnchen. Komm nur, die nächste Tür wartet schon auf uns".

In diesem Augenblick öffnete sich das schmiedeeiserne Tor des Bootsschuppens von einem grellen Lichtbogen umkränzt und auf dem handgemalten Schild darüber strahlte der einzelne Buchstabe "V" in ähnlich hellem Schein. Lukas, der sich in jenem Licht die Antwort auf die an ihm nagende Frage nach dem Mörder seines Freundes erhoffte, rannte förmlich durch das Tor hindurch, während ihm seine Eltern bedächtigen Schrittes folgten ...

Türchen No. 05: Abgewrackt - BITTE ANKLICKEN!

Die inzwischen schon vertraute leuchtende Gasse endete auf einem weitaus spärlicher erleuchteten Schrottplatz, wie Lukas nach kurzem Umschauen nüchtern registrierte. Überall um ihn herum standen Autowracks einst mehr oder minder nobler Karossen zu hohen Türmen aufgestapelt. Am Fuße eines solchen Autowrackturmes saß im Halbdunkel ein junger Mann, dessen in sich zusammengesunkene Körperhaltung ihn für den Beobachter gleichsam als ein menschliches Wrack erscheinen ließ. Immer wieder schlug er sich mit den geballten Fäusten auf die zittrigen Knie und stammelte dabei mit tränenschwerer Stimme: "Perche, Mama mia, warum habe ich das nur getan?". In seinem Rücken vernahm Lukas in diesem Moment ein Rascheln, und eine zweite bedrohliche Stimme krächzte: "Halt endlich Dein Maul! Wirst uns noch die Bullen auf den Hals hetzen mit Deinem ewigen Geplärre! Was wolltest Du denn sonst tun! Dich von dem kleinen übereifrigen Wurm einkassieren lassen mit 20 Kilo Koks? Oder einfach abhauen und den Stoff zurücklassen zusammen mit einem Bullen, der unsere Visagen genau beschreiben kann? Dann hätten wir getrost abwarten können, wer uns zuerst drankriegt. Die Polente oder der Big Boss. Das Ende wär für uns eh das gleiche gewesen, zwei kleine hölzerne Appartmentwohnungen zweieinhalb Meter unter der Erde mit einem Holzkreuz als Wohnungsschild oberdrauf. Oder hast Du immer noch nicht kapiert, wie weit der Arm des Chefs reicht. Vor dem wären wir nirgends sicher gewesen, nicht mal im Bau oder am anderen Ende der Welt!"

Lukas Svensson drehte sich um, wo er sogleich die wild gestikulierende Gestalt eines Mannes erblickte, der breitbeinig zwischen zwei anderen Autostapeln stand. In diesem Augenblick meldete sich auch wieder das jämmerliche Etwas ihm gegenüber zu Wort: "Porcha miseria! Weißt Du, wie egal mir das gerade ist, was aus mir wird! Ich hab einen Menschen erstochen, verstehst Du, ich bin jetzt kein einfacher kleiner Drogenschmuggler mehr - ich bin ein gesuchter Mörder! Ich habe einen Menschen auf dem Gewissen, hab ihm ein Messer zwischen die Rippen gerammt und bin dann einfach feige abgehaun, statt einen Rettungswagen zu rufen. Und der arme Kerl ist regelrecht ausgeblutet. Das Blut eines unschuldigen Familienvaters klebt auf ewig an meinen Händen. Wie soll ich denn mit dieser Schuld weiterleben?". Als ob er sich von seinem Gegenüber eine Antwort auf diese Frage erhoffte, hob der zusammengekauerte Mann seinen Kopf. Und Lukas Svensson, der ihm nun Auge in Auge gegenüberstand, erschrak zutiefst. Mein Gott, das war ja Luigi, der Gehilfe seines Freundes Jack, der in dessen Autowerkstatt arbeitete. Jener Luigi, der ihm so manches Mal seinen Fahrradreifen flickte, wenn dieser einmal mehr die flüchtige Bekanntschaft eines Scherbenhäufleins gemacht hatte. Und nun sah es so aus, als wäre dessen Leben selbst ein erbärmlicher Scherbenhaufen, in dem ihm als Reifen nach und nach die Luft ausginge.

Aus dem Labyrinth der Schrottberge stürmte plötzlich wie aus dem Nichts noch ein dritter Mann heran und meldete sich mit einem so lauten Brüller zu Wort, daß der Ex-Inspektor für eine Sekunde ängstlich zusammenzuckte: "So wahr man mich Hitch Cock nennt, Du verlauste Heulboje gehst mit Deinem verdammten Gejammer nicht zu den Polypen, oder ich blas Dir eigenhändig das Licht aus, verstanden?! Ich werd Dir helfen, Bürschchen, hier einen Moralischen zu kriegen und den Bullenflüsterer zu mimen!" Und damit packte er Luigi - ohne zu zögern am Hals - und verpaßte ihm links und rechts je eine schallende Ohrfeige, während er ununterbrochen weiterschrie: "Ich polier Dir die Fresse, Du halbitalienisches Muttersöhnchen! Du warst es doch, der vor drei Jahren bei uns angekrochen kam, nix zu fressen hatte und winselte, wir sollten Dich bei uns aufnehmen, Du würdest auch alles dafür tun! Und, was haben wir gemacht?! Wir haben Dich mitgeschleppt, Dir geht es gut bei uns. Hast immer ordentlich zu saufen und zu mampfen, oder?! Undankbarer Wicht, Du!" Beim letzten Satz rammte er dem Angesprochenen kurzerhand mit voller Wucht eine leere Bierflasche in den Bauch, so daß Luigi sich schmerzerfüllt einem Wurm gleich zusammenkrümmte und nach Luft schnappend zu Boden ging.

Nur langsam erholte sich der Zusammengeschlagene von der rohen Behandlung, während sich die beiden anderen Gestalten schnellen Fußes aus dem Staub machten. Cocks Mitstreiter drehte sich dabei noch einmal um und rief hämisch grinsend: "Wenn Du singst, kommen wir wieder und legen Dich um, hörst Du?!". Luigi hörte diese Drohung nicht, sein Blick war auf die vielen Sterne am klaren Abendhimmel gerichtet, und seufzend wisperte er zu sich selbst: "Ich wünschte, ich hätte mein Leben nicht so in den Sand gesetzt. Wenn ich doch damals nach der Schule nur einen Job gefunden hätte, irgendwas mit Autos. Bestimmt wäre ich dann nicht an dieses Pack geraten und nicht immer tiefer in den Drogensumpf geschlittert, in dem mein Leben nun elendig versinkt, mit blutbefleckten Händen und einer zertrümmerten Seele. Mein Gott, warum hast Du mir nicht geholfen? Warum nur hast Du mir keinen guten Menschen geschickt, der mir Arbeit gab und mich auf dem rechten Weg hielt und leitete? Was würde ich doch alles dafür geben, mein Brot im Schweiße meines Angesichts redlich zu verdienen?" In diesem Augenblick polterte es neben Luigi und sanft schnurrend entkroch ein rabenschwarzes Kätzchen einem der Autowracks. Auf leisen Pfoten pirschte es sich an den verzweifelten Luigi heran und leckte ihm mit seiner rauhen Zunge über die schmutzige, ebenso rauhe linke Hand. Der sanft Berührte blickte auf, wischte sich kurz mit dem Handrücken das feuchte Glitzern aus den Augen und streichelte dann mit der Rechten über das reudige Fell seiner neuen Bekanntschaft.

Lukas aber schaute fragend zu seiner Mutter herüber, die ihm - seine Gedanken erneut erkennend - voller Sanftmut erklärte: "Du denkst an Deinen Freund Jack Holmes, mein Sohn, oder?! Jenen Mann, der dem armen Menschen hier in Form seiner Autowerkstatt mit einem Schlag Arbeit, Sicherheit, väterliche Freundschaft und ein festes Einkommen gab. Den, der in Deiner Welt verhinderte, daß Luigi irgendwann von Hunger und Zukunftsängsten geplagt auf die schiefe Bahn geraten konnte?! Den herzensguten Menschen, der unbewußt somit auch Sergeant Young das Leben hätte retten können?!". Lukas nickte eifrig. Aber Maria Svensson schüttelte nur traurig den Kopf hin und her: "Der war leider nicht da, um Luigi aufzufangen. Er war an einem gänzlich anderen Ort". Lukas dachte angestrengt nach und zuckte dann verständnislos mit den Schultern, während Joseph Svensson auf die derweil hellerleuchtete Tür eines ausgeschlachteten Rennwagens mit der Nummer "6" weisend sagte: "Du hast noch immer nicht ganz begriffen, was Deine Nichtexistenz bedeuten würde. Aber keine Sorge, unsere Reise ist lang genug, um es Dir deutlich zu machen. Komm nur mit, wir bringen Dich jetzt erstmal zu Deinem alten Freund Jack!". Lukas schaute noch einmal zu Luigi herüber, der - immer noch auf dem Boden kauernd - ununterbrochen das schnurrende Kätzchen kraulte, und fragte: "Und was wird mit ihm?" Mutter Svensson strich ihrem Sohn über die Stirn: "Ach Junge, in dieser Welt werden sie ihn für immer zum Schweigen bringen - die Leute, die Macht und Geld haben und die für noch mehr Macht und Geld ohne Skrupel auch über Leichen gehen. Aber in Deiner Welt ist noch alles offen für ihn. Also laß sein Alter Ego hier nur getrost zurück und zieh mit uns gemeinsam weiter durch eine Welt, wie sie wäre ... ohne Dich". Und damit stiegen erst sie und dann ihr Sohn nacheinander durch die schmale Tür des Rennwagens ins Licht, an dessen anderen Ende Joseph Svensson bereits auf sie wartete ...

Türchen No. 06: Begrabene Freundschaft - BITTE ANKLICKEN!

Als ihn der mysteriöse Lichtkorridor wieder freigab, fand sich Lukas Svensson auf dem Hinterhof eines scheinbar schon seit geraumer Zeit verlassenen Hauses wieder. Ein leichter Windzug brachte das Geäst einer einsam stehenden Lärche zum Rauschen, während auf ihrem Wipfel ein Käuzchen in regelmäßigen Abständen seinen schaurigschönen Ruf ausstieß. Joseph und Maria Svensson hatten sich derweil in die Nähe der steinernen Hauswand begeben, gegen die ein kleines selbstgezimmertes Holzkreuz gelehnt stand, umringt von einer Unmenge wildwachsender bunter Blumen. Lukas schaute aufgeregt um sich. Hatte sein Vater nicht gesagt, sie würden jetzt seinen Freund Jack Holmes besuchen. Sollte er wirklich hier zu finden sein?! Warum war er denn nicht in seiner kleinen 24 Stunden Autowerkstatt. Sie war doch schließlich sein Ein und Alles, seit er sie damals nach jenem schicksalhaften Pokerspiel im Hinterzimmer seiner alten Stammkneipe mit dem auf nicht ganz redliche Weise erworbenen Gewinn erstanden hatte. Naja, wer weiß, was der gute alte "Black Jack" an so einem heruntergekommenen Ort zu schaffen hatte - eigentlich war es ja auch egal, auf jeden Fall war sich Lukas ganz sicher, daß sein schon immer mit allen Wassern gewaschener Kumpel auch ohne ihn seinen Weg gemacht hatte. Jack war schließlich ein Überlebenskünstler.

Und so trat Svensson junior voller Vorfreude auf ein Wiedersehen mit seinem Freund von hinten zwischen seine andächtig dastehenden Eltern, legte ihnen schwungvoll die Hände auf die Schultern und fragte: "Na, wo ist der alte Haudegen Jack denn nun?" Joseph Svensson seufzte, während sein Blick ebenso wie der seiner Frau starr auf dem Holzkreuz ruhte. Lukas folgte der Blickrichtung seiner beiden Erzeuger, und erstarrte einen Moment später zur Salzsäule, während seine Augen wieder und wieder die dunkelgraue Kreuzinschrift lasen: "Jack Holmes, geboren am 22.09.1965, gestorben am 17.02.1986". Im Kopf des Ex-Inspektors begann es zu rattern, daß es ihm schwindlig wurde. Gestorben im Februar 1986?! Aber das war doch nicht möglich. Just an jenem Februarabend hatten sie sich doch beide kennengelernt, als Jack dieses nordirische Narbengesicht mit gezinkten Karten um 8000 Pfund erleichterte. Ja, an jenem Tag wurde ihre Freundschaft geboren, weil Streifenpolizist Svensson durch ein Versehen im richtigen Moment zur Stelle war und Jack durch sein kühnes Eingreifen vor einer Kugel aus dem Revolverlauf des Narbigen ...

Erschrocken wich Lukas einen Schritt zurück, wobei das spärliche Licht des Mondes durch die Krone der Lärche hindurch nun direkt auf seine Halbglatze strahlte und ihm damit gleichsam eine äußere wie auch innere Erleuchtung bescherte: Ja, richtig! Er, Lukas Svensson, war es ja gewesen, der damals mit dem Wurf seines Polizeihelms das unheilvolle Geschoß erfolgreich umlenkte. Ohne ihn aber hätte die Kugel höchstwahrscheinlich ihr tödliches Ziel nicht verfehlt und Jack Holmes' jungem Leben somit ein sicheres Ende bereitet. Lukas' Körper brach unter dieser schweren Erkenntnis zusammen, und er sank unumwunden in die Knie. Tränenströme fluteten wie Wasserfälle sein Gesicht, während er minutenlang mit beiden Fäusten zornig und ohnmächtig zugleich auf das steinharte Erdreich des Hinterhofs einschlug. Seine Mutter war es schließlich, die - nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte - seine Hände ergriff und ihm beim Aufstehen half. Sie nahm ihn in ihre Arme und streichelte ihm dabei tröstend über den Hinterkopf, während sie flüsterte: "Ruhig, mein Junge! Ist ja schon gut! Du erlebst hier ja zum Glück nur die Schatten dessen, was gewesen wäre, wenn Du nie geboren wärst. Es ist wichtig, daß Du einmal erkennst, wieviele Dinge sich verändern, wenn nur ein einziger Mensch auf dieser Welt fehlt! Begreifst Du jetzt, welch ein Geschenk Dein Leben ist, sowohl für Dich selbst als auch für alle anderen?!"

Lukas nickte schluchzend und flüsterte nun seinerseits: "Weißt Du, Mama, Jack ist doch mein bester Freund! Ich hab ihm einmal das Leben gerettet, und von da an war er immer für mich da. Damals, als mich nach der Trennung von Nina in meiner leeren Wohnung mit den unausgepackten Umzugkartons der große Katzenjammer überkam, da stand er abends vor meiner Tür mit einem Sixpack Bier unterm Arm. Und dann haben wir zwei Männer uns zusammengesetzt und die ganze Nacht geredet. Ihm konnte ich ganz offen erzählen, wie es tief in mir drin aussah. Das tat unheimlich gut und reinigte meine Seele. Den Vormittag danach haben wir dann auf zwei Matrazen auf dem Wohnzimmerfußboden verpennt. Und am Nachmittag spuckte Jack sich symbolisch in die Hände, worauf wir innerhalb weniger Stunden meine ganze Bude wohnlich einrichteten. Wenn mir zuhause vor Einsamkeit mal wieder die Decke auf den Kopf fiel, Jack war da! Wannimmer ich Sorgen und Probleme hatte oder ein Fall mir Kopfzerbrechen bereitete, Jack hörte mir zu, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit!" Maria trat einen Schritt zurück und sah ihrem Sohn dabei liebevoll ganz tief in die Augen: "Ja, Lukas! Ich weiß! Dein Vater und ich haben gesehen, was Jack Dir bedeutet. So eine Freundschaft ist ein Geschenk des Himmels. Und ich glaube, er hat Dir gerade hier und jetzt, in diesem Moment quasi unter dem Einsatz seines Lebens das Leben gerettet, ebenso wie Du vor vielen Jahren das seine!". Ein zaghaftes Schmunzeln hielt bei diesen Worten seiner Mutter in Lukas' Gesicht Einzug. Und als sie ihn fragend ansah, erklärte er: "Unter Einsatz seines Lebens, wie?! Ja genau, der gute alte Black Jack hat in puncto Einsatz schon immer verdammt hoch gepokert!". Maria Svensson verstand und mußte nun ebenfalls schmunzeln.

In diesem Augenblick tippte Vater Joseph seinem Sohn auf die Schulter und deutete dabei auf eine kleine unscheinbare Spielkarte, die auf der Erde nahe dem Holzkreuz lag. Sie gehörte offensichtlich zu dem Kinderkartenspiel "Schwarzer Peter", denn sie zeigte deutlich das Motiv eines pechschwarzen gestiefelten Katers. Lukas trat zwei Schritte vor und beugte sich hinunter, um die Karte noch ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen, wobei er an der Stelle, wo sich die Katzenaugen befanden, zwei kleine unscheinbare Einstiche entdeckte. Verschmitzt lächelnd murmelte er: "Wußt ich's doch! Jack, Du altes Schlitzohr! Mach's gut! Wir sehn uns in der anderen Welt!" Dann drehte er sich wieder zu seinen Eltern um und erklärte entschlossen: "Mum! Dad! Ich hab meine Lektion hier gelernt. Das sind also jene Kreise, die meine Existenz zieht. Ich rettete Jack Holmes, der wiederum mit seiner Werkstatt dafür sorgte, daß sein Gehilfe Luigi Rigatoni nicht auf die schiefe Bahn geriet, wodurch er auch gar nicht erst in die Situation kam, Sergeant Phillip Young zu töten. Somit hat mein beherztes Eingreifen damals quasi gleich drei Menschen auf einmal das Leben gerettet - einfach unglaublich! Und das Verrückte ist: Ohne unseren Ausflug ins Was-wäre-wenn hätte ich das nie erfahren. Nun brenne ich natürlich nur umso mehr darauf zu wissen, wie diese Reise weitergeht?!". Vater Svensson nahm seinen Sohn bei der Hand und sprach: "Naja, das verrate ich Dir gern, mein Junge! Mit Jack an Deiner Seite hast Du ja am eigenen Leib erfahren, wie wichtig menschliche Gesellschaft im Leben sein kann. Nun werden wir Dir zeigen, wohin es führt, wenn sie einem Menschen völlig versagt bleibt. Hast Du Lust auf einen Ausflug zu Deiner alten Arbeitsstätte?". Lukas nickte aufgeregt. Und während die beiden Männer eiligen Schrittes zum Holztor des Grundstücks liefen, blieb Mutter Maria noch einen Moment zurück, verneigte sich in stillem Gedenken vor dem Grabe Jack Holmes' und flüsterte sichtlich gerührt: "Danke, Jack! Für alles, was Sie für meinen Jungen getan haben! Sie sind in meinen Augen ein Held und ein wahrer Engel auf Erden!".

Im gleichen Moment blieb Lukas für eine Sekunde stehen und sah sich erstaunt um. War da nicht in weiter Ferne das Klingeln eines Glöckchens zu hören?! Mutter Maria, die derweil wieder zu ihren Männern aufgeschlossen hatte, erriet einmal mehr die Gedanken ihres Sohnes und flüsterte: "Weißt Du, mein Sohn, wannimmer Du das Läuten eines Glöckchens vernimmst, bekommt im Himmel ein Engel seine Flügel". Und Mutter und Sohn mußten bei diesen Worten sofort an ein und dieselbe Person denken: "Black" Jack Holmes, während gleichzeitig das Holztor mit der Nummer 7 vor ihnen hell zu leuchten begann.

Noch eine allerletzte Frage brannte Lukas vor der Weiterreise durch Zeit und Raum unter den Nägeln: "Dad, wessen Grundstück ist das hier eigentlich, auf dem mein Freund Jack in jener Welt seine letzte Ruhestätte gefunden haben würde?!". Vater Svensson erwiderte nachdenklich: "Soviel ich weiß, gehörte das Anwesen einmal ebenfalls einem Exildeutschen, dem man bereits zu Lebzeiten immer das heimliche, nächtliche Schmuggeln diverser Süßwaren in die Schuhe schieben wollte. Leider kann ich mich nicht mehr genau an seinen Namen erinnern". Lukas zuckte nur kurz mit den Schultern: "Naja, ist ja auch nicht so wichtig!" Dann zog er seine Mutter und seinen Vater mit sich ins Licht, dessen heller Schein für einen Augenblick an der steinernen Hauswand nun auch eine bisher kaum wahrzunehmende, rostige Metalltafel sichtbar werden ließ, welche den Schriftzug trug: "Das ist das Haus vom Nik O. Laus!" ...

Türchen No. 07: Verrückte Welt - BITTE ANKLICKEN!

Am Ende des Lichttunnels wartete auf Lukas und seine Eltern ein langer künstlich beleuchteter Kellergang, den der Ex-Inspektor trotz des spärlichen Lichts sofort wiedererkannte: "Mum, Dad, das gibt es ja nicht! Wir stehen ja hier direkt vor dem Archiv des Yard, dessen Herrin und Meisterin eine gute Bekannte von mir ist. Mit ihr hatte ich in all den Jahren viele stets interessante Gespräche, wenn ich nach langem Ermitteln wieder mal einen gelösten Fall zu den Akten legen durfte". Maria und Joseph Svensson sahen sich nur stumm lächelnd an und nickten eifrig, während ihr Sohn die Beiden am Arm packte und dabei ganz begeistert ergänzte: "Da kann ich Euch ja diese gute Seele des Yard auch gleich einmal höchstpersönlich vorstellen. Kommt, wir gehen Carla O'Brien besuchen!". Und ohne auch nur im geringsten eine Reaktion seiner Erzeuger abzuwarten, lief er mit ihnen auf die große Tür mit der Auschrift "Archiv" zu, die die drei Svenssons daraufhin einmal mehr voll und ganz ihrem Geist-Status entsprechend ungeöffnet durchschritten.

Lukas' Augen suchten im Halbdunkel des großen Archivraumes sofort nach seiner Freundin Carla, die er wie immer freundlich und adrett irgendwo hinter ihrem Schreibtisch wähnte. Und tatsächlich entdeckte er dort eine menschliche Gestalt, die sich in eben jener Sekunde hinter einem hohen Aktenberg aufrichtete und dabei ängstlich in Richtung Tür äugte, während sie aufgeregt flüsterte: "Was wünschen Sie? Was ist der Grund Ihres Besuches in meinen Heiligen Hallen, Sir?". Lukas Svensson erschrak gleich zweifach - zum einen darüber, daß sie ihn sah, und zum anderen darüber, wie sie selbst aussah. Die alte Frau, die ihm da furchtsam entgegenschaute, ähnelte seiner Bekannten Carla nur noch entfernt. Sie war vielmehr nur ein Schatten ihrer selbst. Die Haare wirkten zerzaust und strähnig, das Gesicht lag in unzähligen Falten und die zittrigen Mundwinkel hingen deutlich nach unten, was dem ganzen Antlitz einen unnatürlich deformierten Ausdruck verlieh. Lediglich ein gerahmtes Foto neben ihr auf dem Schreibtisch zeigte noch jene Carla, wie der Ex-Inspektor sie kannte und schätzte - mit strahlenden Augen und dem so gewinnenden Lächeln. Lukas trat ein wenig näher an den Schreibtisch und das Bild heran, um lesen zu können, was da über und unter dem Bildnis geschrieben stand und erkannte in goldenen Lettern den Schriftzug: "Scotland Yard. Beste Mitarbeiterin 2001".

In seinem Rücken bemerkte Vater Joseph in diesem Moment: "Sie war damals das Aushängeschild vom Yard, ihr bezauberndes Gesicht zierte mehrere Illustrierte, und sie gab viele Interviews. Nach einigen Wochen legte sich der Rummel um ihre Person wieder, und sie fiel seelisch in ein tiefes Loch. Zu ihr in den Keller verirrte sich kaum mal eine Menschenseele, nur ein paar Akten anfordernde Anrufe aus den Büros weiter oben bildeten noch einen minimalen Kontakt zur Außenwelt. Im Dezember 2003 fiel dann auch der weg, als man im Zuge des technischen Fortschritts den kompletten Datenbestand des Yards innerhalb eines halben Jahres auf dem nigelnagelneuen Interpol-Server einspeiste, wodurch die handgeschriebenen Akten völlig ihre Bedeutung verloren. Man dachte für einen Moment sogar über die Vernichtung der alten Akten und die Streichung von Carlas Stelle nach, verwarf die Idee dann aber wieder, da sie einfach als zu kostenintensiv erschien. Stattdessen durfte Fräulein O'Brien fürs erste bleiben, als Aktenverwalterin - mutterseelenallein eingesperrt zwischen diesem gewaltigen Papierberg. Da kann man auf die Dauer schon ein wenig verschroben werden, zumal die obersten Herren im Yard die Räumlichkeiten ebenso wie ihre einzige Insassin recht stiefmütterlich behandelten, wie Du siehst".

Svensson junior schaute sich etwas genauer um. Sein Vater hatte recht. Zum einen roch es hier sehr muffig, da anscheinend die Luftungsanlage schon vor einiger Zeit den Geist aufgegeben hatte, wie Lukas mit seinem detektivischen Spürsinn sofort feststellte. Denn aus Richtung des Luftungsschachts kam zumindest kein einziger Luftzug, stattdessen nur ein leises, montones, schabendes Geräusch - so als ob die metallenen Rotorblätter eines der Ventilatoren eingekeilt permanent am ihn umgebenen Außenring kratzten. Zum anderen tropfte zur Außenseite hin in einer Ecke das Wasser in ähnlich beachtlicher Geschwindigkeit von der Decke in einen auf dem Boden bereitstehenden Eimer wie es in der anderen Ecke auf einer Anrichte zeitgleich das kochendheiße Wasser in der kurz zuvor eingeschalteten Kaffeemaschine tat.

Lukas schaute seinen Vater traurig an und konstatierte: "Alles ziemlich deprimierend hier. Aber was ich nicht verstehe: Wieso konnte sie mich bei unserem Eintreffen sehen, Dad?". Joseph Svensson zögerte einen Augenblick, bevor er es übers Herz brachte, seinem Sohn die Erklärung zu liefern: "Du erinnerst Dich doch noch an unseren Besuch bei Deiner Bekannten Jane und an die große Frau in einem blaugepunkteten Nachthemd, die Dich ebenfalls sehen konnte". Sein Filius nickte: "Ja, natürlich, aber die war ja auch psychisch krank! Wieso hat Carla mich gesehen?". Ein kalter Schauer lief ihm noch im selben Augenblick, in dem er diese Frage stellte, über den Rücken, da ihm sein glasklarer Verstand bereits die erschütternde Antwort lieferte. Wenn Carla ihn als Geist sehen konnte, dann mußte wohl ihr eigener Geist inzwischen ebenfalls ziemlich umnachtet sein.

Als ob die Archivarin seine dunkle Ahnung noch bekräftigen wolle, hüpfte Carla O'Brien in dieser Sekunde mit einem einzigen Satz auf den Schreibtisch und schrie: "Fort mit Dir! Verschwinde, Du Untier! Laß mich endlich in Ruhe! Ich hab es satt, Deine schrecklichen Krallen in meinem Rücken zu spüren!". Dabei sah sie mit weit aufgerissenen, glanzlosen Augen in Richtung eines großen Aktenstapels, dessen Schatten an der Wand in ihrem verwirrten Geist scheinbar das Bild einer großen schwarzen Katze erzeugte. Und mit einem spitzen Brieföffner wild um sich fuchtelnd, begann sie nun - immer wieder von einem gespenstischen Pfeifen unterbrochen - selbst abgewandelte literarische Textpassagen vorzutragen: "Schrein oder nicht schrein, das ist hier die Frage ... Mein Kater, mein Kater, was faßt Du mich an, Krallmonster hat mir ein Leids getan ... Kralle, kralle, manche Strecke, daß zum Zwecke Herzblut fließe ... Katerich, mir graut's vor Dir ...". Mit einem weiteren kühnen Hüpfer landete Carlas zitternde Gestalt im nächsten Moment wieder auf dem Teppichboden vor dem Tisch, wobei das Beben des Aufpralls den gesamten Aktenberg auf dem Schreibtisch derart ins Wanken brachte, daß er nur wenige Sekunden später lautkrachend zu Boden segelte. Die losen Blätter trennten sich dabei von ihren pappenen Hüllen und flatterten in alle Richtungen des Raumes auseinander.

Carla verfiel bei diesem Anblick in ein hämisches Grinsen, das schließlich in einem minutenlang ununterbrochenen teuflischen Lachen gipfelte. Plötzlich aber stoppte der dämonische Lachanfall, und mit funkensprühendem Blick in Richtung ihres geistreichen Besuchs kreischte sie: "Papier! Überall Papier! Akten, Millionen kleine Buchstaben mit blauer und schwarzer Tinte geschrieben, in endlosen Kombinationen aneinandergereiht und von weißen Flecken jäh unterbrochen! Fälle, Schicksale, Leichen, Mörder, Vergewaltiger, Zeugen, Aussagen ... alles in der Schwebe, bis es auf dem dreckigen Boden der Tatsachen landet und liegenbleibt ... auf ewig liegenbleibt, hier an diesem schrecklich einsamen Ort. Und je höher der Papierberg wird, desto schwerer wird er. Legt sich auf meine Seele, preßt mir die Luft ab, begräbt mich unter sich ... Ich, lebendig begraben, unter Leichen und Mördern ... Weg, weg mit Euch! Ich bekomme keine Luft mehr!" Dabei griff sie sich in den Ausschnitt ihrer Bluse und zerrte wie eine Verrückte daran, während sie immer mehr aufbrausend nach Luft zu japsen schien. Das dauerte so etwa eine Minute an, bevor sie mit einem Male wie versteinert stehenblieb. Ein weiteres unheilverheißendes Grinsen, dann stemmte sie sich wie eine Furie gegen das erste der zahlreichen Aktenregale und brachte es schließlich zum Umstürzen. Wieder flatterten die Aktenblätter unkontrolliert durch die Gegend, während sich Carla kreischend dem nächsten Regal zuwendete.

Für Lukas war das alles zu viel. Er schloß seine Augen und stopfte sich gleichzeitig beide Zeigefinger in die Ohren. Was war nur aus dieser bezaubernden, klugen Frau geworden. Ein Wrack, an dessen gute Seele die schreckliche Einsamkeit dieses Kellergewölbes jahrelang genagt und die sie nun letztenendes völlig zerfressen hatte. Ja, er war eben scheinbar der Einzige, bei dem sie hin und wieder ein paar Worte los wurde. Sein Da-Sein allein hatte sie wohl all die Jahre vor einem solchem Austicken bewahrt. Seine kurzen, bereichernden Stippvisiten hatten ihre einsame Seele letztlich gesund gehalten. Auf den Gedanken, wie wertvoll so ein kleiner unscheinbarer Freundschaftsdienst manchmal sein konnte, war er nie zuvor gekommen.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Lukas sich wieder getraute, seine Augen und Ohren aufzutun. Und was ihn dabei erwartete, war ein Bild der Verwüstung. Der ganze Raum war übersät mit Bergen von losem Papier, aus denen - Bergspitzen gleich - hier und da ein paar metallene Regalteile herausragten. In der äußersten Ecke des Raumes aber kauerte bibbernd Carla O'Brien und wisperte ängstlich: "Hilfe! Wo bin ich? Was ist passiert? Wer hat denn all die schönen weißen Blättchen verstreut? Wo ist der Prinz, der die Dornenhecke zerschlägt und mich wachküßt?".

Zu gern wäre Lukas für Carla jener rettende Prinz gewesen, doch das war leider unmöglich. Denn in dieser imaginären Welt gab es ihn ja schließlich gar nicht, selbst wenn Carla seine momentane geistige Anwesenheit im Zustand ihrer voranschreitenden geistigen Abwesenheit zu erahnen schien. Nein, er konnte nichts für sie tun. Aber sein oberster Boß, Harry Freakadelly, der hätte doch bestimmt schon lange etwas für sie tun können. So wie Lukas ihn kennengelernt hatte, lagen ihm doch seine Mitarbeiter stets am Herzen. Und so wandte sich Svensson junior fragend seinem Vater zu: "Dad, kannst Du mir vielleicht sagen, warum mein Chef Mister Freakadelly hier alles so herunterkommen ließ und warum er sich nie um verbesserte Arbeitsbedingungen für Miss O'Brien gekümmert hat?". Joseph Svensson nickte: "Ja, das kann ich tun, mein Sohn. Nur glaube ich, Du überschätzt da ein wenig den momentanen Einfluß Deines Mister Freakadelly auf die Firmenpolitik im Yard. Ich fürchte, Dein Ex-Boß hat momentan ganz andere Dinge im Kopf. Aber komm nur, sieh und urteile selbst!".

Mit diesen Worten nahm er die Hand seines Sohnes und zog ihn mit sich fort, hin zur Tür des Archivraums. Dort angekommen griff er eilig nach der Klinke und stieß die Tür sperrangelweit auf. Und dann enteilten beide Männer in Richtung des bereits hellerleuchteten Fahrstuhls, auf dessen Display merkwürdigerweise statt der "0" für den Keller strahlendrot die Ziffer 8 aufleuchtete. Maria Svensson aber drehte sich im Gehen auch hier noch einmal um, schaute auf die am Rande des Papierchaos gen Himmel starrende Carla und schüttelte traurig den Kopf: "Du meine Güte, arme Carla! Wie schnell es mit einem Menschen seelisch bergab gehen kann. Dabei fing doch alles so harmlos an. Ein paar kleine Selbstgespräche, um Dir die Zeit des Alleinseins hier zu vertreiben. Irgendwann dachtest Du Dir dabei nur so zum Spaß einen imaginären Gesprächspartner aus. Und eines Tages hörtest Du dann auch dessen Stimme zu Dir reden - eine Stimme, die Dir schließlich Angst machte und Dich damit an den Rand des Wahnsinns trieb ... Oh je, nur schnell weg von hier! Wir können ja doch nichts mehr für Dich tun! Was Du jetzt nötig hast, ist professionelle Hilfe. Und die wirst Du ja auch bald finden, am gleichen Ort wie Jane". Und damit lief auch sie schnellen Schrittes zur inzwischen offenstehenden Lifttür und tauchte gemeinsam mit ihrer Familie wieder in jenes warme helle Licht ein, daß sie unmittelbar zur nächsten Station ihrer Reise beförderte ...

Türchen No. 08: Heimlich abgeschoben - BITTE ANKLICKEN!

Als sich die Fahrstuhltür am Ende des Lichttunnels wieder öffnete, rechnete Lukas fest damit, im 20. Stockwerk von Scotland Yard zu landen, wo er am Ende des langen Flures mit dem roten Teppich im Büro mit der Nummer "2009" seinen Chef und Freund Harry Freakadelly anzutreffen glaubte. Doch zu seinem Erstaunen standen er und seine Eltern plötzlich in einem unbekannten Flur ganz ohne Teppich, dafür aber komplett mit grauem Linoleum ausgelegt. Zudem war es hier viel heller als auf Gang im Yard und an den Zimmertüren standen statt bloßen Ziffern Vor- und Zunamen sowie diesen zugeordnete große Portraitfotos von Lukas Svensson völlig unbekannten Personen: Victor Gaines und Ira Drazen, Charles Cummings und Walt Logan. Am dritten Zimmer aber waren nur jeweils ein Name und ein Foto angebracht, und beide kamen Lukas Svensson nur allzu bekannt vor: Es war das lächelnde Gesicht seines Ex-Bosses, das ihm da fotografisch entgegenstrahlte und darunter sein Name in großen schwarzen Buchstaben: Harry Freakadelly.

Just in diesem Moment klopfte ein junger Mann ganz in weiß an die Tür und öffnete sie ein paar Sekunden später, ohne daß von innen jemand "Herein" gesagt hatte. Der junge Mann, welcher ein kleines Heft und ein paar Buntstifte in seinen Händen trug, trat ein und schloß die Tür sofort wieder hinter sich. Lukas und seine Eltern nahmen die - Geistern vorbehaltene - Abkürzung durch die benachbarte Wand und standen schon eine Sekunde später in einem spärlich möblierten Zimmer dicht hinter jenem Mann in Weiß. In einem gemütlichen Lehnsessel vor dem Weißuniformierten saß niemand anderes als Mister Freakadelly höchstpersönlich, die in warme Wollsocken gehüllten Füße auf einem Hocker abgelegt, während sein Gegenüber gerade die mitgebrachten Stifte und das Heft auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel plazierte. Dann begann er, in langgezogenen, extra laut und deutlich ausgesprochenen Worten eine dezente Aufforderung zu formulieren: "Hallo, Mister Freakadelly, ich bin der Patrick. Und ich würde mich sehr freuen, wenn wir jetzt einmal diese Stifte nehmen würden und den kleinen niedlichen Kater in dem hübschen Heftchen ausmalen würden, gell?!" Harry Freakadelly blinzelte dem Knaben mit einer Mischung aus Gelangweiltsein und aufsteigender Verärgerung entgegen und erwiderte schließlich in deutlich klarerem und zackigerem Tonfall: "Na, dann nehmen Sie doch endlich ihre bescheuerten Stifte und malen sie ihre dämliche Katze meinetwegen ganz schwarz aus, wenn Sie wollen! Ich will jedenfalls meine Ruhe und nicht wie ein kleines Kind behandelt werden. Schließlich sind wir hier in einem Pflegeheim und nicht im Kindergarten in der Krabbelgruppe. Und ich bin auch kein kleines Hosenscheißerchen mehr, sondern ein Chief Superintendent der Polizei im Ruhestand. Und jetzt verschwinden Sie besser, bevor mir wieder einfällt, wo ich hier meine alten Handschellen und meine Dienstwaffe aufbewahre, Pfleger Patrick, Sir!".

Der Pfleger hatte es nun plötzlich ziemlich eilig, seine Malutensilien wieder zusammenzuräumen und das Zimmer auf möglichst kurzem Weg zu verlassen. Dabei ließ er es sich allerdings nicht nehmen, an der Tür noch einmal kurz kehrt zu machen und mit beleidigter Miene anzumerken: "Das ist aber gar nicht schön, was wir hier tun! Wir sollen doch nicht fluchen und drohen! Das schickt sich nämlich gar nicht für einen Mann ihres Alters, Sir! Ich fürchte, da müssen wir mal den Herrn Doktor holen, damit er uns ein kleines Mittelchen verschreibt, das uns ein wenig ruhiger macht, gell?!". Harry Freakadelly sprang mit einem Satz aus seinem Sessel auf, ergriff einen seiner - neben dem Hocker stehenden - Latschen und schwenkte ihn drohend durch die Luft, während er mit hochrotem Gesicht brüllte: "Raus jetzt, aber sofort! Oder ich sorg dafür, daß Sie auf einen Schlag mehr Ruhe bekommen, als Ihnen lieb ist! Ewige Ruhe sozusagen ..." Weiter brauchte er seine Gedanken nicht ausführen, denn Pfleger Patrick hatte in diesem Augenblick bereits das Weite gesucht, wie die hinter ihm knarrend ins Schloß fallende Zimmertür klar demonstrierte.

Harry Freakadelly aber ging zur Beruhigung seiner selbst erst einmal ein paar Schritte in dem kleinen Zweibettzimmer auf und ab. Dabei schaute er auf das leere Bett neben dem seinen und murmelte: "Ach, Freddy, warum hast Du mich hier mit all diesen halbsenilen Spinnern, den ganzen überheblichen Kriegsdienstverweigerern und den kratzbürstigen Oberschwestern allein gelassen. Hast Du mich nicht in den beiden gemeinsamen Jahren hier im 'Stift zur ewigen Ruh' nach jeder unserer Schachpartien immer damit zur Weißglut getrieben, daß Du behauptetest, ich würde viel früher abkratzen als Du?! Und was ist jetzt? Du hast Dich einfach heimlich, still und leise über Nacht aus diesem Domizil des gepflegten Dahinvergetierens verkrümelt und mich hier allein zurückgelassen. Schäm Dich, alter Verräter! Hättest ja bei Deinem Treppensturz wenigstens auf den dämlichen Patrick drauffallen können, statt Dir nur einfach plump das Genick zu brechen. Und dabei konntest Du doch jederzeit bei Deiner Tochter wohnen, wenn Du elender Stinkstiefel nicht zu stolz gewesen wärst, sie und ihren netten Freund darum zu bitten. Mich hingegen hat meine Tochter zusammen mit dieser kleinen Ratte sogar hinter meinem Rücken für unzurechnungsfähig erklären und dann hier einweisen lassen, nur weil der Mistkerl auf meinen Posten scharf war. Die kleine machthungrige Kröte soll der Teufel holen ..." Der noch bis eben wutschnaubend herumeilende Freakadelly blieb nun mit einem Schlag wie angewurzelt stehen und griff sich rechtsseitig an den Brustkorb, während er gleichzeitig mit weitgeöffnetem Mund nach Luft schnappte.

Pfleger Patrick stürmte in diesem Moment gemeinsam mit einer jungen Frau in Schwesterntracht ins Zimmer und fing den in sich zusammensinkenden Ruheständler mit seinen Armen auf, während er seiner Kollegin zurief: "Ruf schnell die Rettung an, Florence, ich fürchte, er hat einen Herzinfarkt". Die Schwester tat wie ihr geheißen, während Patrick dem alten Mann den obersten Knopf des Oberhemdes öffnete und ihn dann auf den Boden legte, wo er sogleich mit Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung bei Freakadelly begann.

Lukas Svensson hatte bei diesem Anblick hilflos die Hände zu Fäusten geballt. Stille Wut stieg in im auf, die sich schließlich in einem einzigen Satz entlud: "Dieser verdammte Dreckskerl! Wie konnte Wannabe ihm das antun?! Ich könnte diesen miesen Hund ..." Maria Svensson packte ihren Sohn erschrocken an der Schulter: "Aber, Junge! Wo holst Du denn plötzlich all diesen haßerfüllten Zorn her? Natürlich ist es schrecklich, einen guten Freund so leiden zu sehen. Und selbstverständlich hat der dafür Schuldige Strafe verdient. Aber Du bist nicht sein Richter, und wer sagt Dir denn eigentlich, daß es Charles Wannabe ist?!" Lukas Gesichtsausdruck löste sich schlagartig wieder, ebenso wie seine geballten Fäuste. Ungläubiges Staunen packte ihn und trieb ihn schließlich zu der Frage: "Aber wer sollte es denn sonst gewesen sein, jene Ratte, die den armen Harry im Bunde mit dessen skrupelloser Tochter hat gegen seinen Willen hier einweisen lassen?!".

In diesem Augenblick trafen die Rettungssanitäter vor Ort ein. Sie lösten den erschöpften Pfleger bei seinen Erste-Hilfe-Maßnahmen ab, gaben Lukas' Ex-Boß eine Spritze und versetzten ihm dann zweimal einen kräftigen Stromstoß mit dem mitgebrachten Defibrilator. Erst dann stellte der inzwischen ebenfalls eingetroffene Notarzt zufrieden fest: "Gott sei Dank! Wir haben wieder einen normalen Sinusrhythmus! Wenn er die nächsten 24 Stunden ohne einen Rückschlag übersteht, dann hat der alte Haudegen eine gute Überlebenschance! Vielen Dank für Ihr beherztes Eingreifen, Pfleger Patrick!" Der Arzt reichte dem jungen Mann die Hand, welche dieser daraufhin - wenn auch etwas zögerlich - sichtlich gerührt ergriff.

Joseph Svensson aber nahm seinen Jungen beiseite und flüsterte: "Keine Sorge, er schafft es, Lukas! Er ist ein zäher Bursche und wird wieder völlig gesund. Und er findet in seinem neuen Mitbewohner Mister Poe einen exellenten Gruselgeschichtenerzähler und auch einen gelehrigen Schachschüler, gegen den er jede Partie gewinnt, so wie er es am liebsten mag! Du aber wirst mit uns zusammen jetzt Mister Wannabe besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, daß er mit Harry Freakadellys mißlicher Lage in diesem Fall so rein gar nichts zu tun hat!". Und damit liefen die drei Svenssons gemeinsam durch die offenstehende Zimmertür, am Ende des Flurs die Treppe hinunter, an der Rezeption des Heims vorbei durch den Haupteingang. Von dort aus begaben sie sich schnurstracks zu dem davorstehenden Rettungswagen, dessen rechte Hintertür mit der Nummer 9 augenblicklich in ein helles Blaulicht getaucht erschien, und stiegen einer nach dem anderen hinein ...

Türchen No. 09: Politischer Sprengstoff - BITTE ANKLICKEN!

Lukas und seine Eltern standen nach Durchschreiten des Lichttunnels mitten auf einer Straße. Daß dennoch keiner von ihnen sich davor fürchtete, überfahren zu werden, lag zum einen natürlich daran, daß ja alle drei Svenssons auf die eine oder andere Art an diesem Orte gar nicht real existent waren. Zum anderen aber hatte Lukas auch sofort erkannt, wo er sich hier befand, und daß die Straße daher gar nicht befahren werden würde. Man hatte sie nämlich schon vor Jahren nach einem Terroranschlag weiträumig abgesperrt, so daß sie nun dem Verkehr und der Öffentlichkeit komplett unzugänglich war. Vor dem großen noblen Haus vor ihnen stand einzig und allein ein einsamer Polizist Wache, während bedächtigen Schrittes ein Herr im schwarzen Anzug sich von rechts her dem Hause näherte. Der Polizist begrüßte den Mann bei seiner Ankunft freundlich, was dieser mit stummem Nicken und leichtem Knurren erwiderte - ein Knurren, das Lukas Svensson sofort wiedererkannte. Der gutgekleidete Herr, der in diesem Moment jenes weltberühmte Haus in der Downing Street 10 betrat, war kein anderer als sein früherer Kollege Charles Wannabe.

Lukas holte einmal tief Luft, dann tippte er seinen Vater zu seiner Rechten an: "Sag mal, Dad, was macht der denn hier zu Besuch beim Premierminister?". Joseph Svensson beugte sich ein wenig zu seinem Sprößling herüber und antwortete kurz und knapp: "Naja, Junge. Er wohnt hier. Er ist nämlich nicht beim Premierminister, er ist seit nunmehr 5 Jahren selbst der Premierminister". Und als Vater Svensson bemerkte, daß es seinem Sohn bei dieser Neuigkeit glatt die Sprache verschlug, ergänzte er noch rasch: "Seine politische Karriere war ebenso steil wie zuvor sein Aufstieg beim Yard, so daß man ihn 2004 zwei Jahre nach seiner Heirat zum Regierungschef des Königreichs machte. Und nun lebt er hier in der Downing Street mit seiner Ehefrau Britney, einer weltweit bekannten Popikone - "Lucky Britney", wie sie der Volksmund nach einem ihrer Songs auch liebevoll nennt. Überhaupt sind die Beiden im Volke recht beliebt, auch wenn Sir Wannabe im politischen Alltag durch seine etwas schroffe Art hin und wieder hier und da ein wenig aneckt. Erst kürzlich hat er sich den Zorn der Splittergruppen der ehemaligen IRA zugezogen, als er äußerte, Unabhängigkeit für Nordirland gäbe es nur über seine Leiche".

Lukas fand inzwischen langsam seine Sprache wieder: "Das soll also heißen, wenn ich nicht geboren wäre, dann würden Charles und Britney Wannabe das Land regieren?! Und was bitteschön sagt die Queen dazu?". Maria Svensson, die links von ihrem Sohn stehend der Unterhaltung ihrer beiden Männer bisher nur stumm beigewohnt hatte, meldete sich zu Wort: "Die Queen?! Welche Queen? Meinst Du Prinzessin Camilla oder dachtest Du bei Deiner Frage doch eher an König Charles, welcher vor nunmehr 7 Jahren das Erbe seiner auf eigenen Wunsch vom Thron zurückgetretenen Frau Mama antrat?". In Lukas' Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Premierminister Charles, König Charles - hieß London überhaupt noch London, oder hatten die neuen Herren es inzwischen in Charlestown umgetauft?! Sein mit den unglaublichen Neuigkeiten überflutetes Hirn kam gar nicht mehr zur Ruhe, während es zwischen seinen Ohren einer Fahrstuhlmusik ähnlich leise zu summen begann: "Baby, hit me one more time!". Sein Blick ging nach links, von wo sich im selben Augenblick eine Frau und ein Mann dem Hause mit der Nummer 10 näherten.

Als der Ex-Inspektor die Gesichter der Beiden erkannte, begannen ihm augenblicklich die Knie weich zu werden, und er bat seine Mutter, an deren Arm er sich gleichzeitig krampfhaft festhielt: "Mum, kneif mich mal!". Statt seiner Aufforderung nachzukommen, meinte sie nur bedächtig mit dem Kopf nickend: "Keine Sorge, Du hast keine Halluzinationen, mein Junge! Es ist tatsächlich die gebürtige Lady Spencer, die da mit ihrem Gatten, dem Filmproduzenten und Geschäftsmann, die Wannabes in ihrem Amtssitz besucht. Sie ist dort längst ein stets gern gesehener Gast. An jenem schicksalhaften 31. August 1997 zum Beispiel weilte sie mit ihrem Mann auf besonderen Wunsch des Premiers nicht wie geplant in Paris, sondern war entscheidend an der Unterzeichnung eines Abkommens beteiligt, demzufolge in einem kleinen afrikanischen Staat namens Sangala sämtliche Landminen vernichtet wurden - eine Maßnahme die seither gewiß Tausenden Einheimischen und auch dort weilenden Ausländern das Leben gerettet haben dürfte". Lukas war sichtlich verblüfft: "Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß so ein egoistisches Ekel wie Wannabe nur durch ein paar veränderte Weichenstellungen in seinem Leben praktisch ein komplett neuer Mensch wird. Wie ist denn das möglich?". Hier meldete sich nun wieder Joseph Svensson zu Wort: "Ich glaub, mein Sohn, die Ehe mit diesem Popsternchen war für Beide irgendwie ein Segen. Sie fand in ihm ihren Halt und er in ihr eine Frau, die in ihrer unverkrampften Art in ihm das so lang tief verborgene Gute zutage zu fördern verstand. Gemeinsam sind sie ein starkes Team!".

Maria Svensson sah es als notwendig an, die Aussage ihres Mannes noch ein wenig zu vervollständigen: "Das müssen die Beiden auch sein, denn so unbestreitbar Premierminister Wannabes außenpolitische Erfolge auch immer sein mögen, innenpolitisch hat er momentan einen recht schweren Stand. Die zersprengt geglaubte IRA formiert sich - angetrieben durch seine manchmal etwas plumpen Äußerungen - neu und ein weitverzweigtes Netz mafiaähnlicher Strukturen ist heimlich, still und dennoch für den kritischen Beobachter unübersehbar dabei, die Staatsmacht im Königreich erfolgreich zu korrumpieren und zu unterwandern. Das übersieht Charles Wannabe in seinem blauäugigen Glauben an die eigene Stärke manchmal". Lukas wurde bei all dem Gesagten immer unklarer, wie ihn seine Eltern gerade mit diesem Besuch von seinem Gedanken abbringen wollten, daß die Welt ohne ihn besser dran gewesen sei. Und so wand er schließlich ein: "Aber im Grunde genommen läuft doch alles recht gut hier, sowohl für Charles Wannabe, als auch für seinen königlichen Namensvetter und für das Land. Ganz zu schweigen davon, daß die Königin der Herzen noch am Leben ist, glücklich verheiratet, beim Volke beliebt und politisch äußerst erfolgreich. Was ist denn da nun für alle Beteiligten besser dadurch, daß ich am Leben bin?!" Joseph Svensson warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, die in diesem Moment "9:11 PM" anzeigte und meinte dann flüsternd, den Finger auf die Lippen legend: "Noch ist nicht aller Tage Abend, mein Sohn!".

Es kehrte für eine Sekunde vollkommene Stille ein, welche aber schon im nächsten Moment von einem ohrenbetäubenden Knall - ähnlich einem Paukenschlag - durchbrochen wurde, bei dem das Haus mit der Nummer 10 samt seiner Nachbarschaft augenblicklich in einem gewaltigen Flammenmeer unterging. Mutter Maria und Vater Joseph hatten sich dabei gleichzeitig schützend vor ihren Sohn geworfen, der unter der ungeheuren Druckwelle der Explosion schlagartig in die Knie ging. Seine Augen waren für eine Minute durch das grelle Licht des Feuers und den beißenden Rauch geblendet, seine Ohren vom Lärm der Detonation betäubt. Erst als sich beide Sinnesorgane wieder erholten, kehrte auch langsam seine unter dem tiefsitzenden Schreck verschüttet gegangene Sprache wieder. Und im Angesicht eines brennenden Trümmermeeres, aus dessen Mitte nur noch die wundersamer Weise fast unzerstört gebliebene schwarze Haustür herausragte, stieß er stammelnd mit Blick auf seinen Vater hervor: "Mein Gott, wie konntest Du das zulassen? Wie konntest Du nur stumm zusehen, ohne einzugreifen? Wie konntest Du nur soviel Leid über all diese Menschen bringen?". Joseph Svensson streichelte seinem Lukas sanft übers schüttere Haar während er mit ruhiger Stimme sprach: "Mein Kind, all das, was hier in dieser Welt geschieht, liegt in der Verantwortung der Menschen. Ihnen ist von Schöpferseiten der Verstand gegeben und ebenso Glaube, Hoffnung und Liebe - die Liebe aber ist die größte unter ihnen. Ich bin hier wie jeder Himmelsgesandte nur als Zuschauer und allenfalls stiller Berater des Gewissens tätig, auch wenn es mir bei all der Schlechtigkeit und dem Leid in der Welt zuweilen fast das Herz bricht. Und dennoch ist den Menschen die Freiheit zur selbständigen Entscheidung nicht ohne Grund gegeben. Sie müssen ihr Leben einfach mehr dazu nutzen, mit diesem göttlichen Geschenk voll und ganz im Sinne der uneingeschränkten Nächstenliebe umzugehen zu lernen". Lukas hatte den Worten seines Vaters aufmerksam gelauscht. Nun nickte er nur stumm und brach dann weinend zusammen.

Es war wohl gut eine Stunde vergangen, als der erschütterte Ex-Inspektor seinen Kopf wieder erhob. Die Flammen waren gelöscht, der Rauch verzog sich langsam, die sterblichen Überreste von Charles und Britney Wannabe, der Königin der Herzen und ihres fremdländischen Gemahls sowie der bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leib des wachhabenden Polizeibeamten Coffin Burns wurden in Blechsärgen abtransportiert. Mutter Maria wischte sich eine stumme Träne aus dem Auge und schluchzte bedrückt: "Ein schwarzer Tag für das brittische Empire und die ganze freie Welt. Sie hat mit einem Schlag gleich eine ganze Handvoll unersätzlicher Persönlichkeiten verloren. Nichts wird nach diesem Tag mehr so sein wie zuvor. In einigen Wochen wird ein Mann namens Nero Gatto als neuer Premier vereidigt werden, eine Marionette jener düsteren Mafia-Schattenmacht, die damit endgültig die Herrschaft auf der Insel an sich reißt und Großbrittanien über die kommenden Jahre in Chaos und Terror untergehen lassen wird. Einfach grauenvoll!". Lukas nutzte all seine verbliebenen Kraftreserven, um sich wieder aufzurichten und seiner Mutter in dieser schweren Stunde beizustehen. Liebevoll fing er sie in seinen Armen auf und bemerkte mit einer Mischung aus Verzweiflung und Wut in seiner Stimme: "Genug der Qualen! Ich hab genug gesehen!". Vater Joseph jedoch setzte in seinem Rücken sofort zum Widerspruch an: "So leid es mir tut, die bittere Reise in ein Leben ohne Dich ist noch lang nicht zuende. Unsere nächste Station ist erneut Scotland Yard. Oder willst Du gar nicht wissen, wer in puncto Verbrechensbekämpfung an oberster Stelle alle Zügel in der Hand hält?!".

Lukas Kampfgeist kehrte bei dieser Frage augenblicklich mit ungebrochener Stärke zurück: "Doch, und ob ich das will! Ich hoffe, es ist jemand, der diesen verdammten Verbrechern, die all diese Menschen hier auf dem Gewissen haben, ein für alle Mal das Handwerk legt. Mutig und zu allem entschlossen sollte er sein - ein Fels in der Brandung, ein unverrückbares Bollwerk gegen die Anstürme des Bösen. Los gehts, sehen wir uns diesen Mann an, auf den das brittische Volk in der Stunde seiner schwersten Prüfung all seine Hoffnungen legt". Entschlossen hakte er seine beiden Elternteile unter und durchschritt mit ihnen über Asche und Trümmer hinweg die einsam stehende, und vom Scheinwerfer eines abfahrenden Rettungsfahrzeugs hell angestrahlte Tür mit der Hausnummer 10 ...

Türchen No. 10: Polizeiliches Marionettentheater - BITTE ANKLICKEN!

Die Zahl 10 war auch das Erste, was Lukas sah, als er nach dem Durchschreiten der Tür und des dahinter wartenden Lichtganges seine Augen langsam wieder öffnete. Sie bildete bei genauerem Betrachten die beiden letzten Ziffern der goldenen Zimmernummer 2010 am Ende eines langen, prunkvoll ausgestrahlten Ganges, den der Ex-Inspektor sogleich als den des obersten Stockwerks seiner alten Wirkungsstätte wiedererkannte. Seine Gedanken enteilten für einen Moment in die nahe Vergangenheit, als er auf jenem Flur von den spalierstehenden Sekretärinnen des Yard würdevoll und einem Hollywoodstar ähnlich in den Ruhestand verabschiedet wurde. Jener Ruhestand, an dessen Anfang - wie er nun wußte - allerdings bereits weniger die ersehnte Ruhe als vielmehr qualvolle Unruhe für ihn stand. Svenssons Geist weigerte sich zu diesem Zeitpunkt strikt, über die quälende Ungewißheit des Verbleibs Yelenas nachzudenken. Und so lenkte er sich damit ab, seine momentane Umgebung noch etwas gründlicher in Augenschein zu nehmen.

Was die Ausstattung betraf, hatte sich hier seit seinem letzten Besuch so einiges verändert. Anscheinend waren jene Gelder, die man für die Renovierung des Kellerarchivs hätte aufwenden sollen, eher in die Ausschmückung des 20. Stocks investiert worden. Denn hier glänzte und strahlte alles derart edel, daß man meinen konnte, man würde sich noch immer innerhalb des Lichttunnels befinden, der die Svenssons seit nunmehr zehn Etappen von einem Ort zum anderen befördert hatte. Lukas fiel als Ursache dafür sofort auf, daß sämtliche Deckenleuchten durch prunkvolle Kronleuchter ersetzt worden waren, die ihr warmes Licht noch bis in die äußersten Ecken des Ganges versprühten. Der rote Teppich war auf der gesamten Länge des Flurs durch einen echten handgeknüpften Perser ersetzt worden, und die Türen zur Linken und zur Rechten des Korridors präsentierten sich in gebeiztem und hochglanzpoliertem Mahagoniholz. Am auffälligsten aber war, daß die komplette Numerierung der Türen geändert worden war. Die kleine Besenkammer gegenüber dem Lift trug nun die Nummer 2001, wodurch alle anderen Büros jeweils um eine Nummer nach oben aufgestiegen waren. Und am anderen Ende des Flurs trug das Chefbüro nun eben nicht mehr - wie während der Ära Freakadelly - die Nummer 2009, sondern seiner Zeit ein wenig vorauseilend bereits die des in Kürze anbrechenden Jahres 2010.

Lukas Svensson war schon sehr gespannt, welches neue Gesicht sich wohl hinter jenem neunummerierten Türchen verbergen möge und so durchschritt er - gefolgt von beiden Elternteilen - die dicke Mahagonitür. Er landete in einem riesig anmutenden Raum mit einem langen Tisch, um den herum vier gleichgroße Ledersessel standen. An der Stirnseite des Tisches aber machte sich ein mit der Rückenlehne zu Lukas umgedrehter, fast doppelt so hoher Chefsessel breit, auf dessen seitlichen Lehnen in nobelsten Zwirn gehüllt zwei Arme abgelegt waren. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich der Sessel samt seinem Insassen langsam in Richtung des Tisches zu drehen begann und damit nun auch für Lukas und seine Eltern den Blick auf den amtierenden Chef der obersten brittischen Polzeibehörde freigab.

Und einmal mehr glaubte der Ex-Inspektor seinen Augen nicht trauen zu können, als ihm der Neue endlich Auge in Auge gegenübersaß. Lukas schüttelte den Kopf wild hin und her, wobei es zeitgleich aus seinem Munde mit um Worte ringender Fassungslosigkeit heraussprudelte: "Dad, Mum, bitte sagt mir, daß das nicht wahr ist! Das ist ein Traum, oder?! Nein, ich muß mich korrigieren: Das ist ein Albtraum!". Dabei trat er unbewußt Schritt um Schritt zurück und passierte so letztlich ungewollt in umgekehrter Richtung erneut das schwere Mahogoniholz der Eingangstür. Draußen fiel sein Blick nun auf eine kleine Tafel unterhalb der güldenen Zimmernummer, die ihm nochmals schwarz auf Gold bestätigte, was Herz und Kopf einfach nicht fassen wollten: "New Scotland Yard Chiefsuperintendent Sir Derrik Crawler". Wannabes ehemaliges Schoßhündchen, Privatsekretär und ewiger Kaffeeholer war der neue Chef von Scotland Yard und damit im wahrsten Sinne des Wortes Herr über Gut und Böse. Ein machtvoller Posten, fehlbesetzt mit einem Lackaffen mit der gefährlichen Mentalität eines Radfahrers: Nach oben buckeln und nach unten treten! Wie um alles in der Welt war dieses kleine Licht an so einen blendenden Job gekommen? Eine gute Frage! Eine, deren Antwort er sich am ehesten von seinen zwei ebenso bluts- wie seelenverwandten Reisebegleitern erhoffte.

Und so durchschritt er nun zum dritten Mal die Mahagonitür und wandte sich sogleich antwortsuchend an seine Mutter: "Mum, sag mir doch bitte, wie es dieses Würmchen geschafft hat, in derart kurzer Zeit so hoch aufzusteigen?". Und während sie zur Beruhigung ihres Söhnchens über dessen Wange streichelte, erklärte Maria Svensson in ruhigem Ton: "Eigentlich auf dem gleichen Weg wie seinerzeit Mister Wannabe - über den Umweg einer Beziehung zur Tochter Freakadellys. Während Wannabe sich bereits politisch betätigte und dabei irgendwann seine Britney kennenlernte, war bei Freakadellys Tochter der Weg frei für seinen ehemaligen Musterschüler. Gemeinsam haben die beiden Turteltäubchen dann nach ihrer raschen Hochzeit den unbequemen Schwiegerpapa seines Chefpostens entthront und ihn mitsamt seinem Sessel in jenes schöne abgelegene Heim verfrachtet, wo Du ihn ja bereits kurz vor seinem Herzinfarkt besuchen durftest. Derrik Crawler aber stellte von seinem neuen Posten aus sogleich das komplette Yard auf den Kopf. Die gesamten finanziellen Mittel flossen ab sofort nach ganz oben zu ihm, während in den unteren Etagen gleichzeitig mehr und mehr der Sparteufel wütete. Immer wieder kam es zu Stellenstreichungen und damit verbundenen Massenentlassungen. Besonders bei den älteren Mitarbeitern schlug Crawlers Sparpolitik grausam und unbarmherzig zu".

Joseph Svensson nutzte eine kleine Atempause in den Ausführungen seiner Gemahlin, um seinem Filius auch gleich die tieferen Gründe dafür darzulegen: "Ja, und das hat wohl vor allem mit Crawlers Kindheit zu tun. Er wuchs nämlich seit seinem dritten Lebensjahr bei einem älteren Pflegeelternpaar auf, welches ihn als Bestrafung für sogenannte Verfehlungen immer wieder grausam prügelte und tagelang ohne Essen im dunklen Keller wegsperrte. Dort hatte er dann natürlich in seiner kindlichen Ohnmacht genug Zeit, einen tiefen Haß auf seine Peiniger zu entwickeln, den er nach Erreichen der entsprechenden Machtposition kurzerhand auf alle älteren Leute übertrug! Aber auch die jüngeren Angestellten haben bei einem verbitterten und seelisch abgestumpften Menschen wie ihm wenig zu lachen. Er ist als Chef ein wahrer Tyrann, der tagsüber im Büro seine Untergebenen terrorisiert, während er abends bei seiner dominanten Frau selbst den Unterwürfigen mimt. Eine Faszette, die er natürlich vor der Öffentlichkeit tunlichst zu verbergen sucht, da sie ihn in unserem nach außen so prüde eingestellten Land sicher umgehend den geliebten Job kosten würde".

Hier hakte nun Mutter Svensson wieder ein: "Genau dieses dunkle Geheimnis aber macht den mächtigen Herrn Crawler mit seiner Schlüsselposition so leicht angreifbar und erpreßbar. Und damit sind wir auch schon beim springenden Punkt angelangt. Da Freakadellys Töchterchen seine masochistischen Vorlieben nur bis zu einem gewissen Punkt zu befriedigen vermag, führten ihn seine heimlichen Gelüste vor einigen Wochen in den berüchtigten Szeneclub 'Painful Joy' in South Hampton. Die Domina, deren Dienste er dabei in Anspruch nahm, hat ihn sofort erkannt und seine wohlbehütete Identität umgehend ihrem Boß preisgegeben, der Crawler mit diesem Wissen nunmehr voll und ganz in der Hand hat. Der mächtigste Mann bei Scotland Yard ist somit in Wirklichkeit nur eine willenlose Marionette, bei der ab sofort übermächtiger Verbrecher im Dunkeln die Fäden zieht".

Und Vater Svensson ergänzte mit einem Blick auf seine Taschenuhr: "Und schon erhält Mister Crawler von genau diesem Herrn seine neuste Order!". Lukas vernahm vom Tisch her in der selben Sekunde eine leise Computerstimme, die emotionslos vermeldete: "Sie haben Post!". Derrik Crawler, der bis eben noch ganz entspannt in seinem Chefsessel gehockt und an einem Glas Wodka genippt hatte, sprang mit einem Satz aufgeregt zu seinem Laptop und öffnete mit zittriger Hand per Mausklick die verkündete neue Mail. Lukas stellte sich dabei sogleich bewußt hinter ihn, schaute ihm über die linke Schulter und las neugierig: "Es ist mal wieder soweit, Würmlein! Zahltag! Modalitäten wie gewohnt! Ich erwarte Deinen Boten morgen um 20.10 Uhr im unteren Parkdeck der Tiefgarage des Hyde Park Hotels! Außerdem solltest Du endlich Deine bescheuerten Skrupel über Bord werfen und meine Exekutivkraft bei der Suche und Unschädlichmachung Deiner flüchtigen verräterische Schlange unterstützen! Oder möchtest Du etwa mitsamt Deinem ungewöhnlichen Interesse für etwas härtere Gangarten doch noch auffliegen?!". Unterzeichnet war die Nachricht, deren Betreff kurz und knapp "I.O.U" lautete, nicht mit einem Namen, sondern lediglich mit dem sich dreimalig wiederholenden Bild eines finster dreinschauenden schwarzen Katers.

Crawler, der die Mail inzwischen schon ein zweites und drittes Mal überflogen hatte, entsorgte das erpresserische Dokument im nächsten Augenblick mit einem Klick in den Papierkorb seines Laptops, den er gleich darauf sicherheitshalber komplett leerte. Dann eilte er mit schlotternden Knien zu seiner Wechselsprechanlage, über die er seine Sekretärin nach dem Drücken des Sprechknopfes lautstark anwies: "Geben Sie umgehend meinem Chauffeur Bescheid, daß er morgen um Punkt 19 Uhr 30 nach seinem Feierabend hier zu erscheinen hat, Fräulein! Ich hab einen wichtigen Auftrag für ihn!". Die Kenntnisnahme und sofortige Ausführung seines Befehls voraussetzend, nahm er - ohne eine Reaktion von seiner Vorzimmerdame abzuwarten - den Zeigefinger vom Knopf der Anlage und ließ seinen angespannten Körper wieder in den Sessel zurückgleiten, wo er umgehend mit zitternden Händen seine alkoholschlürfende Tätigkeit wieder aufnahm. Dabei flüsterte er, zwischenzeitlich immer wieder auf die Tür starrend: "Dieser verdammte Mistkerl! Wie konnte ich nur in so einen elenden Schlamassel reingeraten!".

Maria Svensson winkte inzwischen schon eine ganze Weile auffällig mit ihrem Zeigefinger und deutete Lukas damit an, daß es an der Zeit sei, diesen Ort zu verlassen. Und obwohl der Ex-Inspektor noch viele Fragen gehabt hätte, stellte er ihr in diesem Moment doch keine einzige davon. Er hatte begriffen, daß sich nach und nach auf dieser Reise all seine Fragen eh klären würden - die nach dem erpresserischen Strippenzieher im Hintergrund ebenso wie die nach der geheimnisvollen Domina und dem Chauffeur Crawlers. Und sicher würde er auch erfahren, ob die Frau am anderen Ende der Wechselsprechanlage immer noch Freakadellys Sekretärin Claudia war, um wen es sich bei der flüchtigen verräterischen Schlange aus der Email handelte und wer sich hinter dem furchteinflößenden Begriff der Exekutivkraft verbarg. Gespannt auf die nächste Station begab sich Lukas Svensson - seinen Eltern stumm folgend und zum vierten und wohl letzten Mal das edle Mahogoniholz der Tür passierend - in die helle Erleuchtung des Zeitreisetunnels, dessen grelles Licht ihm beim Schließen seiner Augen noch rasch eine blinkende 11 vorgaukelte ...

Türchen No. 11: Rituale eines Familienvaters - BITTE ANKLICKEN!

Die Tunneldurchquerung endete für die Svenssons inmitten einer dunklen Tiefgarage direkt vor einem quer in der Durchfahrt geparkten silbergrauen Rolce Royce mit dem markanten Kennzeichen "DC1". In Anbetracht der vorigen Station seiner Reise brauchte Lukas Svensson nur einen kurzen Augenblick, um mittels seines kriminalistischen Scharfsinns zu der Erkenntnis zu gelangen, daß dies wohl eine Nobelkarosse aus dem sicher recht beachtlichen privaten Fuhrpark des neuen Scotland Yard Chief Superintendents Derrick Crawler sein mußte. Und während der Ex-Inspektor noch überlegte, wie ein - wenn auch hoher - Staatsbeamter sich solchen Luxus leisten konnte, näherte sich von der Einfahrt der Garage her ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben. Er hielt unmittelbar hinter dem Rolce Royce, welchem nun ein Mann in dunkler Chauffeursuniform entstieg. Lukas Svensson betrachte sich die Uniform und ihren Träger ein wenig genauer und erkannte in letzterem sofort seinen Freund George Adams, der ihn in dieser Verkleidung ja schon zu seinem Junggesellenabschied kutschiert hatte. Nur diesmal wirkte der Gesichtsausdruck des guten alten George wesentlich ernster als an jenem vergnügten Abend vor der geplanten Hochzeit.

Chauffeur George begab sich schnellen Schrittes zum schwarzen Mercedes, wo sich gerade mit leisem Surren eines der Spiegelfenster elektronisch einen kleinen Spalt breit öffnete. Durch die entstandene Öffnung reichte George ein kleines Briefkuvert ins Wageninnere hinein und senkte dann seinen Kopf ein wenig, bis sich sein Ohr unmittelbar in Höhe des Fensterschlitzes befand. Mehrfach nickend nahm er hier offensichtlich ein paar geflüsterte Anweisungen entgegen, wonach er sich ohne Umschweife zum hinteren Teil des Mercedes begab. Dort angekommen öffnete er den Kofferraum und entnahm ihm einen braunen, ledernen Aktenkoffer, mit dem er eine Sekunde später wieder in Richtung des Royce entschwand - während zeitgleich unter leisem Surren Fenster und Kofferraumklappe des Mercedes wie von Geisterhand geschlossen wurden. Der schwarze Mercedes verließ mit quietschenden Reifen die Tiefgarage. George aber legte den übergebenen Koffer auf der Motorhaube seiner Nobelkarosse ab und öffnete ihn. Als Inhalt kam dabei eine Ladung sorgfältig gestapelter Geldscheinbündel zum Vorschein, deren grüne Farbe nur schwerlich darüber hinwegtäuschen konnte, daß es sich hierbei wohl um Schwarzgeld handeln durfte.
Vater Joseph trat von hinten an seinen Nachkömmling heran, um ihm seinen stillen Verdacht durch eine geflüsterte Bemerkung zu bestätigen: "Ja, ganz recht, mein Sohn! Das ist Drogengeld, das Derrik Crawler im Auftrag seines Erpressers waschen soll. Für ihn fallen dabei von der hier vor Dir liegenden Million satte 5 Prozent ab, also 50000 Pfund. Hübscher kleiner Nebenverdienst für einen Diener seiner Majestät, oder?! Als Gegenleistung versorgt Crawler seinen geheimen Geldgeber mit ebenso geheimen Informationen aus dem Yard, zum Beispiel genauen Terminen für geplante Großrazzien oder detailierten Routenplänen von Geldtransportunternehmen, mit deren Hilfe erfolgreiche Überfälle zum Kinderspiel werden. Und wannimmer Mister Crawler dabei doch einmal kalte Füße bekommt, erinnert ihn der gute Mann im Dunkeln sofort mit seinem I.O.U. wieder daran, daß er ihn durch sein Wissen um die privaten Neigungen des Yardbosses auf Lebenszeit fest in der Hand hat. Im Übrigen hat der einflußreiche Geldspender auch nie einen Hehl daraus gemacht, daß er einen zu laut singenden Crawler ohne Zögern durch Halsumdrehen zum Schweigen bringen lassen würde, so daß seine - dann noch viel kälteren - Füßchen im kühlen Grunde des Leichenschauhauses lediglich noch die Verzierung eines Zehzettels nötig hätten".

Lukas Svensson schüttelte erzürnt den Kopf: "Dieser verfluchte Crawler! Wie kann man als Polizeibeamter nur so tief sinken? Bestechlichkeit, Schwarzgeldgeschäfte und Verrat von Dienstgeheimnissen ...". Und Vater Svensson ergänzte die Ausführung seines Sohnes sogar noch um ein weiteres schweres Delikt: "... sowie Anstiftung zum Mord! Aber ehe Du jetzt fragst, darauf kommen wir später noch zurück. Jetzt sollten wir uns erst einmal wieder Deinem Freund George zuwenden, den Crawler und seine Hintermänner skrupellos als Geldboten mißbrauchen. Sein Auftrag ist für heute erledigt, und damit hat er jetzt erst einmal Feierabend. Laß uns zu ihm in den Wagen steigen und ihn nach Hause zu seiner Familie begleiten". Gemeinsam mit Joseph und Maria durchquerte Lukas einen Augenblick später die geschlossene silbergraue Hintertür des Rolce Royce und nahm neben seinen Eltern auf der Rücksitzbank Platz, während George Adams auf dem Fahrersitz mit einem Ausdruck der Erleichterung im Gesicht die Chauffeursmütze zur Seite legte. Dann startete er den Wagen, dessen Motor unter der geschlossenen Haube sogleich sanft wie ein schwarzes Kätzchen zu schnurren begann. Vater Svensson tippte weiter hinten derweil seinem Sohnemann aufgeregt auf die Schulter: "Anschnallen, Junge! Auch für uns Geister gelten gewisse Sicherheitsregeln!". Lukas war sichtlich erstaunt, tat aber dennoch als stets gehorsamer Sohn prompt wie ihm geheißen, während das edle Gefährt unter ihm die Tiefgarage verließ und sich nun gemächlich in Richtung Londoner Vorstadt bewegte.

Etwa eine halbe Stunde später erreichten der Nobelschlitten und sein Fahrer ihr Ziel. George hatte während der gesamten Fahrt immer wieder ein und dasselbe alte Lied im goldenen CD Player laufen lassen, welches er stets voller Inbrunst mitsang, ohne dabei jedoch auch nur ein einziges Mal einen richtigen Ton zu treffen. Doch das störte ihn scheinbar nicht im Geringsten, und so tönte er beim Einfahren in den Hof seines kleinen Grundstücks zum 13. Mal aus voller Kehle und mit im Takt schnipsenden Fingern die zweite Strophe der angestaubten Intro jenes Gruselserienklassikers: "Their house is a museum, where people come to see 'em. They really are a scream. The Addams Family". Misses Adams wartete bereits an der Haustür auf das Eintreffen ihres Gatten, der - eilends dem Royce entspringend - auf sie zulief und ihr rechtes Händchen ergriff. Dem Rücken jener zierlichen Hand einen leidenschaftlichen Kuß aufdrückend, bemerkte er augenzwinkernd: "Mein Liebes, wir haben aber heute mal wieder ein eiskaltes Händchen!". Seine Gattin lächelte, auch wenn sie diese unverhohlene Anspielung auf seine Lieblingsfernsehserie schon tausende Male von ihm gehört hatte. Man konnte dem Charme des guten alten George halt einfach nicht wiederstehen. Außerdem war sie heilfroh, ihn wieder gesund und munter bei sich zu haben. Denn seit er in Crawlers Auftrag dunkle Geschäfte für ihn tätigte, machte sie sich immer wieder schreckliche Sorgen um ihren Mann. Und auch wenn der jeden noch so kleinen Anflug von Besorgtheit bei ihr immer gleich mit einem Lächeln hinwegzufegen versuchte, ein ungutes Gefühl blieb.

Für den Moment aber schob Misses Adams selbst all die grauen Sorgenwolken in ihrem Köpfchen beiseite, um einen ungetrübten Blick auf das sonnige Schauspiel zu haben, welches sich just in dieser Sekunde mit einem doppelten Freudenschrei aus dem Inneren des Korridors der Adamsbehausung ankündigte. Es war der begeisterte Ausruf zweier Kinderstimmen, der nur aus einem einzigen zweisilbigen Wort bestand: "Da-ddy!". Ein kleiner Junge und ein etwas größeres Mädchen preschten im nächsten Augenblick an ihrer Mutter vorbei und sprangen ihrem erwartungsfroh in die Hocke gegangenen Vater in die offenstehenden Arme. George Adams drückte jedem der beiden, übers ganze Gesicht strahlenden Kinder etwa ein Dutzend Küsse auf die glühendroten Pausbäckchen, während er schluchzend ausrief: "Ach, Adam und Eva, meine kleinen Schätze, was würde der Papi nur ohne Euch anstellen. Ich hab Euch Beide den ganzen Tag so schrecklich vermißt! Ich hab Euch zwei nämlich sooo lieb". Und dabei malten seine ausgestreckten Arme einen riesengroßes Herz in die Luft.

Der inzwischen dem Auto entstiegene Lukas, dem bei der liebevollen Begrüßung der Adams Familie wieder eine kleine Träne ins Auge geraten war, wandte sich besorgt an seine ihm zur Seite stehende Frau Mama: "Es wird ihm doch nichts geschehen, auch nicht in Zukunft, oder?!". Maria Svensson senkte betrübt den Kopf: "Ich würde Dir ja gern etwas anderes sagen, aber es ist uns Geistern nicht erlaubt zu lügen. Nicht einmal eine kleine Notlüge! Nein, mein Junge! Die Familie Adams wird in naher Zukunft ohne ihren Ernährer auskommen müssen. George wird bald nicht mehr die Kraft haben, Tag für Tag an den verbrecherischen Geschäften seines Chefs beteiligt zu sein. Er wird sich der Staatsanwaltschaft als Kronzeuge gegen Crawler und Co zur Verfügung stellen, wohl wissend, daß er bei dem Einfluß seiner bisherigen Brötchengeber damit sein Leben verspielt hat. Noch ehe es zu einer Aussage geschweige denn zum Prozeß kommen kann, wird man ihn eines Abends halbnackt mit einer zerbrochenen Spritze und einer Überdosis Heroin im Körper auf einer Bahnhofstoilette der Londoner Victoria Station finden. Seine Witwe und die Kinder aber bekommen - da man George Adams postum unehrenhaft entlassen wird - vom Staat keinen einzigen Penny zugesprochen und nagen fortan am Hungertuch ... Tut mir leid, aber das Familienidyll, das Du hier siehst, ist nur noch ein kurzes Glück auf Zeit".

Lukas drehte sich weinend um. Er konnte seinem Freund und dessen Familie nicht mehr in die Augen sehen - denn was er darin erblickte, waren ein bereits jetzt dem Tode geweihter Mann und seine bedauernswerten Hinterbliebenen, die mit ihm gleichzeitig all ihre Hoffnungen auf Glück und Geborgenheit zu Grabe trugen. Auch Maria Svensson wurde es schwer ums Herz, als sie ihren Sohn so traurig sah. Sie schloß ihn in ihre Arme und sprach zu ihrem Mann: "Komm, Joseph, es ist höchste Zeit zum Weiterreisen für uns! Tu doch bitte schnell das nächste Türchen auf, ja!". Joseph nickte stumm und hob einige Sekunden später jene schräge Holzluke an, unter der ein paar steinerne Stufen direkt zum Kohlenkeller der Familie Adams hinabführten. Die Luke tauchte dabei in ein goldenes Licht ein, während Josephs rechte Schuhsohle beim Betreten der Stufen im - sie bedeckenden - pechschwarzen Kohlenstaub den Abdruck einer spiegelverkehrten 12 hinterließ. Maria aber folgte ihrem Mann ins helle Licht des eben noch so finsteren Kellergewölbes, während der tränenschwere Kopf ihres Sohnes die ganze Zeit wohlgeborgen an ihrer mütterlichen Schulter ausruhte ...

Türchen No. 12: Die Katzenfrau mit der Peitsche - BITTE ANKLICKEN!

Vorsichtig löste Lukas sein Haupt von der schützenden Schulter seiner Mutter und blickte sich in der neuen Umgebung um, die ihn nun hier am anderen Tunnelende erwartete. Es handelte sich um recht geräumiges Zimmer, welches durch seine mit schwarzen Vorhängen abgedunkelten Fenster eher wie ein finsteres Kellergewölbe anmutete. Lediglich die farbige Deckenleuchte, die den Raum komplett in ein schummriges rotes Licht tauchte, verlieh der Dunkelkammer etwas Mystisches. Den scheinbaren Mittelpunkt des Raums bildete ein großes, mit einer Art rotem Gummispannlaken überzogenes Bett. An den Wänden hingen teilweise recht eigenartige Gegenstände, die größtenteils mittelalterlich wirkten. Da war zum einen in einer Ecke ein großer runder Metallkäfig als scheinbar überdimensionaler und dennoch maßstabsgetreuer Nachbau einer Vogelbehausung, zum anderen eine gewaltige Konstruktion aus zwei sich diagonal kreuzenden Balken, die ein an der Wand festverschraubtes X bildete. An allen vier Enden des Holzmonsters befanden sich breite lederne Fesselbänder. Unmittelbar daneben befand sich eine Art Glasvitrine, in derem Inneren eine Auswahl verschiedenster Peitschen, Rohrstöcken und Holzpaddeln zur Schau gestellt waren. Auf einem kleinen Tischchen neben dem großen Käfig wurde Lukas nun außerdem auf einen ledernen Würfelbecher aufmerksam, aus dem unzählige lange dünne Nadeln herausragten. Gleich nebenan lag ein ebenfalls ledernes Hundehalsband mit einer ewta zwei Meter langen Leine daran.

In diesem Moment öffnete sich eine Tür, durch die eine Sekunde später auf allen Vieren ein Mann mit einer Gummimaske über dem Gesicht hereingekrochen kam. Er war bis auf seine dunkelgrauen Boxershorts und die weißen Tennissocken an den Füßen völlig unbekleidet und trug ein Lederband um seinen Hals, das dem Hundehalsband auf dem Tischen wie ein Ei dem anderen glich. Am Ende der zugehörigen Leine kam nun im Türrahmen eine Frau in einem rot-schwarzen Latexkostüm daher, welches ihre ohnehin schon üppigen weiblichen Formen noch zusätzlich zu betonen schien. Jetzt, da sie aus dem Schatten des Nebenraums durch die Tür hindurch ins rote Licht des Zimmers trat, konnte Lukas Svensson auch ihr Gesicht erkennen, das ihm sofort auf seltsame Weise vertraut vorkam. Der Ex-Insektor kramte gedanklich einige Sekunden in der riesigen Personendatenkartei in seinem Hirn, bevor vor seinem geistigen Auge im direkten Abgleich ein zu 100 Prozent identisches Gesicht mit dem dazugehörigen Namen erschien: Claudine Villfort. Er hatte sie seinerzeit bei der großen Razzia im Hause Spirelli kennengelernt, in deren Verlauf er damals auch die Bekanntschaft Francesca Scampis machen durfte. Claudine war damals offiziell das Zimmermädchen im Hause gewesen, wobei Inspektor Svensson nicht viel Phantasie gebraucht hatte, um zu begreifen, daß sie in Wirklichkeit nichts anderes darstellte als Spirellis Leibeigene, die ihm und seinen Gästen ganz nach Lust und Laune für deren perverse Spielchen uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen hatte.

Lukas trat ein paar Schritte an sie heran, um Claudine ein wenig genauer betrachten zu können. Alt war ihr kleines Gesicht geworden, es hatte noch mehr von diesen kleinen, häßlichen Sorgenfalten bekommen. Ihre Gesichtszüge wirkten auf den ersten Blick versteinert wie damals, aber auch das unscheinbare Zucken ihrer Mundwinkel - welches man erst auf den zweiten Blick bemerken konnte - war geblieben. Die Augen starrten glanzlos und leer in die Weite wie die eines Toten. Was sie in all den Jahren ihrer Pein zu sehen bekamen, hatte sie abstumpfen lassen. Sie verschlossen sich schließlich irgendwann gänzlich dem ungefilterten Blick auf ihre Umgebung, um so die kleine verletzliche Seele, die in Claudines Innern ihren Platz hatte, nicht weiter zu zerstören. Um ihren weichen Kern zu beschützen, war ihr Äußeres hart geworden. Sie konnte die Verbindung zur Außenwelt nahezu komplett abgebrechen, den Empfindungsschalter bei Bedarf perfekt ausstellen. Nur das Wiedereinschalten gestaltete sich mehr und mehr schwierig, und das Wiederhochfahren der Emotionen auf volle 100 Prozent klappte längst nicht mehr.

Das kriechende, maskierte Etwas vor ihr auf dem Boden meldete sich plötzlich zaghaft wimmernd zu Wort: "Herrin, erlauben Sie mir, daß ich ihre Stiefel mit der Zunge sauberlecke". Lukas Svensson erschrak. Er kannte die Stimme dieses bibbernden Männchens, es war zweifellos die vom neuen Yardchef Derrik Crawler. Dann war Claudine also jene Domina, von der sein Vater kürzlich gesprochen hatte und die daran Schuld trug, daß der Polizeichef durch seine ungewöhnliche Neigung erpreßbar geworden war. Herrin Claudine öffnete unterdess mit hochgezogenen Augenbrauen die Tür der nahegelegenen Glasvitrine, wobei sie die Leine in ihrer Hand gleichzeitig derart ruckartig anzog, daß dem Angeleinten für einen kurzen Moment deutlich hörbar die Luft wegblieb. Und währen sie einen der Rohstöcke zur Hand nahm, brüllte sie gleichzeitig barsch: "Wer hat Dir erlaubt zu reden, Du elender Wurm? So eine Respektlosigkeit gegenüber Deiner Herrin verdient umgehende Bestrafung". Das maskierte Haupt Crawlers nickte ganz aufgeregt, wobei sein gesamter Körper bebte. Lukas schüttelte den Kopf. Fehlte nur noch das Stummelschwänzchen, mit dem dieser dressierte Schoßhund dann wild hin her wedelt, in Erwartung eines Belohnungsleckerlis. Dieses näherte sich ihm genau in jener Sekunde - angekündigt durch ein leises durch die Luft pfeifen des Rohrstockes in Claudines weit aushohlender Hand. Nur einen Augenblick später landete das Stöckchen mit lauten Knall auf dem entblößten Rücken des Chiefsuperintendents, um gleich danach noch einmal in hohem Bogen geschwungen mit gleicher Wucht auch seine beiden schutzlos ausgelieferten nackten Fußsohlen zu treffen.

Crawler heulte laut auf vor Schmerz, jenem geheimnisvollen Schmerz, den ihm im Übermaß schon als Kind seine strengen Pflegeeltern zugefügt hatten, und bei dem er dennoch Lust zu empfinden vermochte. Ja, dieser wohldosierte, qualvolle Schmerz war sogar das Einzige, was es vollbrachte, seinen unterwürfigen Leib Schauer der Lust zu bereiten. Schließlich hatte er sich als kleiner Junge wie jedes Kind immer nach Liebe gesehnt, doch was er stattdessen bekam, war Prügel und Erniedrigung. Mit der Zeit hatte sein Kopf dann die beiden von Natur aus grundverschiedenen Emotionen Liebe und Schmerz in einen Topf geworfen und auf ewig unheilvoll miteinander in Verbindung gesetzt. Und nun gab es für ihn keine Liebe, keine Befriedigung, keine Lust und kein Glücksgefühl mehr, ohne daß Erniedrigung, Unterwerfung und Schmerz als Auslöser fungierten. Dabei genoß er gleichermaßen beide Rollen, die des Unterdrückers und die des Unterdrückten. Während in seinem Körper der brennende Schmerz und damit auch das empfundene Lustgefühl langsam nachließ - klang in seinem Kopf die bittersüße Beschimpfung seiner Herrin "Wer hat Dir erlaubt zu reden?" - einem leiserwerden Echo gleich - nach. Jener einzelne Satz kramte in seinem Bewußtsein ein ähnlich gelagerten Erlebnisses seines zurückliegenden Arbeitstages hervor, bei dem die Rollen umgekehrt verteilt gewesen waren:

Ein gewisser Inspektor Powerich war in sein Büro gekommen und hatte unaufgefordert sofort damit begonnen, ihm irgendetwas über mögliche Gemeinsamkeiten des Attentats auf Premierminister Wannabe und einer einige Monate zurückliegenden Autobombenexplosion zu berichten. Schon nach den ersten Sätzen war Crawler seinem Untergebenen wutentbrannt ins Wort gefallen: "Hab ich Sie um Ihren Bericht gebeten! Sie reden gefälligst erst, wenn ich es Ihnen gestatte, Kerl!". Und dann hatte er den eh schon sichtlich eingeschüchterten Beamten mit einem weiteren Brüller kurzerhand des Zimmers verwiesen. Ja, auch dieser kleine Ausraster hatte ihm in gewisser Weise Befriedigung bereitet. Gab er ihm doch für eine Sekunde das berauschende Gefühl jener Macht, die Jahre zuvor sein Pflegevater bei seinen endlosen Bestrafungsexzessen stets mit seinen wütend aufblitzenden Augen ausgestrahlt hatte. Und dennoch war jene Art von Befriedigung nicht annähernd so groß wie die, welche Claudines schmerzhafte Bestrafung in ihm auszulösen vermochte.

Claudine schaute unterdess voller Abscheu und Verachtung mit herabgesenktem Rohstock in der Hand auf ihren jämmerlichen Prügelsklaven herab. Was um alles in der Welt tat sie eigentlich hier? Nach all den Peinigungen, die sie jahrelang hatte in der Villa Spirellis erdulden müssen, war ihr das Angebot ihres Bosses, seinen neuerrichteten SM-Club "Painful Joy" am Rande Londons zu übernehmen, wie eine Erlösung vorgekommen. Hier war sie in ihren Augen endlich einmal die Herrin über ihr Schicksal und konnte damit die ewige quälende Opferrolle ablegen. Doch allzu bald hatte sie feststellen müssen, daß sie sich nur vom Regen in die Traufe begeben hatte. Wieder war sie nur ein williges Objekt in den Händen ihres Bosses, dem sie vertrauliche Informationen über ihre Kundschaft abzuliefern hatte, mit denen er die noblen Besucher ihres Etablissements dann besser erpressen konnte. Und selbst ihren widerlichen Kunden mit deren abscheulichen Neigungen und perversen Wünschen war sie gegen eine entsprechend hohe Geldsumme quasi schutzlos ausgeliefert. Auch hier gab sie genauer betrachtet wieder das Opfer, lediglich auf einer gesellschaftlich höheren Stufe. Claudine war bei all diesen Gedanken innerlich zum Heulen zumute, wenngleich auch ihren längst verblaßten, ausgetrockneten Augen keine einzige Träne entronn.

Fast sanft streichelte sie unter dem Einfluß jener Gedanken mit dem losen Ende des Rohrstocks über das spärlich verhüllte Gesäß des vor ihr am Boden kauernden Crawler. Eine Sekunde lang fühlte sie sich ihm sogar seelisch ein wenig verbunden. War doch auch er wie eigentlich alle ihrer abartigen Kunden tief in seinem Innern nur ein von der Bitterkeit des Lebens abgestumpftes Seelenwrack - äußerlich verhärtet und innerlich zerbrochen. Entgeistert schaute ihr der auf diese ungewohnte Weise sanft berührte Derrik Crawler in die Augen. Als sie seinen Blick endlich bemerkte, schlüpfte sie sofort zurück in ihre eingeübte Rolle und kreischte wild gestikulierend: "Hab ich gesagt, daß Du mich ansehen sollst, Du Wicht? Hab ich irgendetwas gesagt zu Dir?". Ein kleinlautes Nein war die Antwort des Lustsklaven, der seinen Blick noch im selben Moment sofort wieder ergebungsvoll senkte. Dreimal spürte er daraufhin den Rohrstock über die Fußsohlen, den Rücken und das Gesäß tanzen, dessen ungestüme "Berührungen" er stets mit einem schmerzvollen Schrei quittierte. Dann erlaubte ihm seine "Herrin", sich zu erheben und nahm ihm das Halsband ab. Claudine beugte sich ein wenig zu ihrem prominenten Kunden herüber, um ihm gleichsam als kleine Entschädigung einen kurzen Blick in ihr tief ausgeschnittenes Dekolte zu gestatten. Dabei fauchte sie ihm ins Ohr: "Ich erlaube Dir, Dich für heute zurückzuziehen. Wir sehen uns morgen abend wieder! Und sei pünktlich, ungehorsamer Wurm, Du!". Der Maskierte nickte kurz und begab sich dann in den Nebenraum, wo er sein verschwitztes Gesicht von der Gummimaske befreite und seinen - von Narben und Striemen übersäten - brennenden Körper wieder sorgsam bekleidete. Noch einmal trat er ins Rotlicht des Hauptraums, um auf dem kleinen Beistelltisch am Bett den dort abgelegten Dienstausweis rasch gegen zehn zerknitterte 50 Pfund Noten, die er lose in seiner Hosentasche trug, einzutauschen.

Ohne ein weiteres Wort oder einen einzigen Blick zurück verließ der Chiefsuperintendent die Räumlichkeiten, während Claudine Villfort langsam die schwarzrote Lackhülle auszuziehen begann. Maria Svensson deutete ihren beiden männlichen Reisebegleitern mit einer kreisenden Handbewegung an, sich anstandshalber umzudrehen, wobei Joseph Svensson während seiner Drehung unbemerkt gleichzeitig einen Ausfallschritt zur Seite machte, so daß er die sich entkleidende Frau über einen kleinen Wandspiegel im Blick behielt. Lukas indes schaute seine Mutter fragend an, so daß diese sich zu einer kurzen Erklärung genötigt sah: "Fräulein Villfort macht sich schon für ihren nächsten Kunden zurecht, einen amerikanischen Milliardär namens Wayne, dessen Spitzname in Fachkreisen einfach nur 'Bad Man' lautet. Der mag es nämlich besonders, wenn Madame Claudine bei seinem Besuch ihr latexschwarzes Katzenfraukostüm trägt, welches Deinem Vater anscheinend auch ganz gut gefällt, so große Augen wie er die ganze Zeit macht". Der ertappte Svensson senior räusperte sich kurz und lächelte dann verlegen. Maria schmunzelte: "Naja, aber nur gucken, nicht anfassen, Du Schuft, Du!".

In diesem Augenblick vibrierte es in der ausgedehnten Poebene von Claudines neuem Latexoutfit verdächtig. Die Domina öffnete den versteckten Reißverschluß ihrer Gesäßtasche und beförderte daraus ein Handy zutage, das sie nach Drücken der Sprechtaste mit der Linken umgehend ans Ohr führte: "Ja, hallo! ... Ja, Sir, der ist grad weg! ... Ja, ich hab alles erfahren, was Sie wissen wollten! ... Ja, auch das strenggeheime Passwort für den uneingeschränkten Zugang zum Interpolserver! ... Ja, schick ich noch heute Nacht per Mail zu Ihnen ... Ja, umgehend ... Ja, natürlich tu ich alles, wie Sie befehlen! ... Ja, Gute Nacht!". Claudine drückte erneut die Sprechtaste am Handy und verstaute es dann wieder in Nähe ihrer rechten Gesäßhälfte. Maria schaute zu ihrem Sohn herüber, der während des Telefonats ganz aufmerksam gelauscht hatte, und fragte ihn: "Was glaubst Du denn, wer da eben angerufen hat? Wen hältst Du für den großen, mächtigen Strippenzieher im Hintergrund, Lukas?". Ihr Sohnemann runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern: "Alles deutet auf Salvatore Spirelli hin. Diesem skrupellosen Verbrecher und Mädchenhändler würde ich all das am ehesten zutraun. Und da Claudine Villfort einst seine Zofe war, ergäbe das auch absolut einen Sinn. Und dennoch sagt mir eine innere Stimme, daß das zu einfach wäre. Schließlich hab ich mit meinen vorschnellen Schlüssen auf unserer Reise schon bei Charles Wannabe völlig danebengelegen. Diesmal halt ich mich lieber zurück und überlasse Euch meine Aufklärung". Vater Svensson seufzte mit einem leichten Augenzwinkern: "Oh, und ich dachte, wenigstens dieser Kelch sei durch unser frühes Ableben an mir als Vater vorbeigegangen. Also gut, da haben wir dann die Sache mit den Blumen und den Bienen ...".

Lukas mußte lachen: "Laß mal, Dad! Die Lektion hab ich mir schon im Selbststudium beigebracht. Und der Beweis namens Lisa Svensson ist inzwischen längst volljährig". Maria Svensson schüttelte den Kopf: "Männer! Haben doch alle immer nur das Eine im Kopf. Aber jetzt Schluß mit den Albernheiten! Schließlich wollt ihr zwei Kindsköpfe doch als erwachsene Männer gelten, oder?!". Lukas und sein Vater nickten einmütig, und Joseph Svensson erklärte: "Du hast wie immer recht, mein holdes Weib! Laßt uns also jetzt unsere Reise fortsetzen und Dich, Junior, darüber auklären, wo wir Mädchenhändler Salvatore Spirelli antreffen würden in einer Welt, in der es keinen Lukas Svensson gibt". Und damit ergriff Vater Svensson zugleich die Hand seiner Frau und die seines Sohnes und führte die Beiden - dem längst entschwundenen Derrik Crawler nachfolgend - durch die inzwischen lichtüberflutete, offenstehende Tür mit der Zimmernummer 13 ...

Türchen No. 13: Die Spaziergänger von Highgate - BITTE ANKLICKEN!

Die plötzlich einsetzende Dimmung des grellen Tunnellichts kündete einmal mehr das Ende der kurzen Zeitreise an, welche den Svenssondreier innerhalb weniger Sekunden um einen weiteren Tag in die alternative Zukunft katapultiert hatte. Letztlich blieb nur ein einziger schwacher Sonnenstrahl am sonst stark bewölkten Himmel übrig. Der Erdboden, auf den dieser Sonnenstrahl traf, war durch ein engmaschiges Netz schmaler Sandwege in unendlich viele kleine Parzellen unterteilt, die in ihrer Gesamtheit nach allen vier Himmelsrichtungen von einer hohen, alten Steinmauer umgeben waren. So unterschiedlich die mehr oder weniger liebevolle Gestaltung jener Parzellen dabei im einzelnen auch war, eines hatten die meisten von ihnen dennoch gemeinsam - in der Mitte ragte aus ihnen weithin sichtbar ein mehr oder minder großer, von handwerklich bagabten Händen bearbeiteter Stein heraus. Die Inschrift jener Steine aber gab dem interessierten Betrachter - einer Personenakte gleich - den Namen eines Menschen und die zugehörigen Daten seiner Geburt und seines Todes preis. Oftmals wurden diese recht trockenen Informationen noch von einem blattgoldenen "Hier ruht" oder "In stillem Gedenken" würdevoll eingeleitet und durch einen kurzen Sinnspruch abgerundet. Häufig deckten frische Blumen das aufgelockerte Erdreich ringsum die einzelnen Steine. Wo sie fehlten, da hatte die Natur im Zuge des langsam zuende gehenden Herbstes den kahlen, harten Erdboden reich mit einem bunten Blätterregen beschenkt.

All die vielen Sandwege strebten im Zentrum des weiträumig ummauerten Geländes auf ein kleines Häuschen mit einem spitz nach oben gerichteten Holzdach zu. An dessen Rückseite und den Seitenwänden geboten mehrere große, milchverlaste Fenster allzu neugierigen Blicken Einhalt - ebenso wie die verschlossene gebeizte Holztür an der Vorderseite es tat. Über jener Tür verkündete dann auch ein hellgrauer Schriftzug weithin sichtbar "Highgate Cemetery", den Namen jener bekannten Londoner Begräbnisstätte. Ein kühles Lüftchen rauschte sanft durch das lose Blätterwerk am Wegesrand stehender Bäume und erzeugte dabei eine traurigschöne Melodie, die der von Enyas zeitlosem Klassiker "Only Time" erstaunlich ähnelte.

Lukas und seine Eltern gingen bedächtigen Schrittes durch die nicht enden wollenden Gräberreihen. Vater Svensson, der den Kopf andächtig gesenkt hielt, raunte dabei: "Hinter jedem dieser in Stein verewigten Namen ruht ein meschliches Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Ein menschliches Schicksal, angehäuft mit Freude und Leid, Glück und Unglück, Mut und Verzweiflung, Liebe und Haß. Nirgends sonst auf der Welt liegen Gut und Böse, Arm und Reich auf so engem Raum friedlich nebeneinander wie hier!". Mutter Svensson nickte stumm und erhob in der nächsten Sekunde für einen Moment ihren Blick. Vor ihr und ihren Männern thronte auf einem riesigen Steinquader das überdimensionale, in Stein gehauene Antlitz eines alten, vollbärtigen Mannes mit gewelltem Haar und einer hohen Stirn. Und im Stile einer Reiseführerin erklärte Mutter Maria ihrer zweiköpfigen Reisegruppe: "Was ihr hier seht, ist das Grabmal von Karl Marx, einem bekannten Philosophen. Und seinen berühmten Ausspruch, den ihr am unteren Ende in Stein gemeißelt lesen könnt, dürfen wir wohl getrost als das große schöpferische Ziel jeder menschlichen Existenz betrachten". Lukas' Augen folgten dem Blick seiner geliebten Mutter, und seine Lippen bewegten sich stumm, während sein Verstand die angesprochenen Marxschen Gedanken Wort für Wort in sich aufzusaugen begann: "Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert. Es kömmt darauf an, sie zu verändern!".

Während Lukas noch darüber nachdachte, wie sehr doch sein Dasein die Welt um ihn herum - bereits jetzt nach der Hälfte der Zeitreise deutlich erkennbar - verändert hatte, verneigten sich seine beiden Erzeuger zum Abschied vor dem Grab jenes prominenten bärtigen Mannes. Lukas musterte die Zwei dabei ein wenig entgeistert, so daß sich Mutter Maria - seine Bedenken erratend - zu einer Erklärung genötigt sah: "Ja, Du hast recht, Lukas! Über die politischen Ansichten des Herrn Marx kann man sich durchaus streiten, aber wir verneigen uns hier auch nicht vor dem politischen Philosophen, sondern vor dem Menschen Karl Marx". Und Vater Joseph ergänzte: "Vor dem Sohn eines bedeutenden jüdischen Rabbis, dem Ehemann und Vater von sieben ehelichen Kindern - von denen nur drei Töchter ihre Kinderzeit überhaupt überlebten - sowie einem unehelichen Sohn. Einem überdurchschnittlich zielstrebigen und intelligenten Menschen, der - in ärmlichen Verhältnissen lebend - die Einfachheit liebte und heuchlerische Kriecherei zutiefst verabscheute. Einem bekennenden Bücherwurm, dessen Lieblingsdichter unter anderem Goethe, Shakespeare und Dante waren und zu dessen Lieblingsfiguren das vom rechten Weg abgekommene Gretchen aus Faust zählte. Ein Liebhaber von Fischgerichten, dem nichts Menschliches fremd war, und der an allem Zweifel zu hegen wagte. Vor dem Andenken dieses ungewöhnlich gewöhnlichen Menschenkinds verneigen wir uns". Mit diesen Worten kehrten Vater und Mutter Svensson um und setzten ihren Spaziergang über den Friedhof in entgegengesetzter Richtung fort. Lukas aber folgte ihnen nachdenklich.

Es vergingen etwa fünf Minuten, bis die Schritte der Svenssons erneut vor einem Grabstein stoppten. Auch dieser war ein wenig größer als viele der ihn umgebenden Steine und trug in sich das Bildnis eines toten Mannes mit der dazugehörigen Grabinschrift. Doch diesmal verbeugten sich weder Maria noch Joseph Svensson vor dem Verstorbenen. Und während vor den Dreien ein - wie aus dem Nichts aufgetauchter - rabenschwarzer Kater von links nach rechts über das Grabfeld hinweg huschte, trat Sohn Lukas zwischen seine Eltern und warf einen kurzen Blick auf das Grab, auf dessen schmalen Sockel ein Schmierfink mit roter Farbe die Buchstabenkombination "I.O.U." gepinselt hatte. Das in dem darauf ruhenden Grabstein eingearbeitete Foto des Toten erkannte Svensson junior sofort wieder, hatte ihn dieses Gesicht doch vor einigen Jahren selbst noch höchstlebendig frech angegrinst, als der Inspektor und seine Kollegen nach der spontanen Razzia in seiner Villa ohne für eine Anklage ausreichende Beweise wieder abziehen mußten. Zornig sagte Svensson dem arroganten Hausherrn damals Auge in Auge zu: "Freuen Sie sich nur nicht zu früh! Eines Tages sehen wir uns an anderer Stelle wieder. Und dann wird Ihnen Ihr überhebliches Lachen schon vergehen!". Und als der so Angesprochene damals erwiderte, er würde wegen dieser vermeintlichen Drohung durch seinen Anwalt rechtliche Schritte gegen Svensson erwägen, ergänzte der Inspektor uneingeschüchtert: "Das ist keine Drohung, das ist ein Versprechen!".

Lebend hatte er den skrupellosen Fiesling danach nicht mehr angetroffen, aber hier und heute an seinem Grabe konnte der Ex-Inspektor das Versprechen endlich einlösen. Ja, mehr noch - wie er zufrieden feststellen durfte, gab es glücklicherweise doch noch ein paar Dinge, die sich trotz seiner Nichtexistenz nicht zum Schlechteren hin verändert hatten. Der verabscheuungswürdige Mädchenhändler und grausame Vergewaltiger Salvatore Spirelli war so oder so tot, wie die Grabinschrift neben seiner kaltschnäuzigen Verbrechervisage schwarz auf weiß klarstellte: Gestorben am 13. August 2009. Eine leichte Genugtuung machte sich in Lukas Svensson breit. Es gab doch noch Gerechtigkeit in der Welt. Und an seinen Vater gewandt, meinte er: "Spirelli ist also nicht der mysteriöse Schattenmann hinter Claudine und Co, der Yardchef Crawler erpressen läßt. Auch ganz ohne mein Dasein hat Alberto Scampi diesem Schwerverbrecher ein tödliches Ende bereitet. Ich hoffe nur, daß der Vater der armen Francesca auch in dieser veränderten Welt dafür einen mildtätigen Richter gefunden hat". Joseph Svensson erhob bei diesen Ausführungen seines Filius die rechte Hand und winkte bedächtig ab: "Söhnchen, Du bist schon wieder ein wenig vorschnell in Deinen Schlüssen. Ja, es stimmt, auf den ersten Blick ist alles unverändert. Spirelli ist tot, ermordet am 13. August dieses Jahres in seinem Rolce Royce. Doch nicht die Schüsse eines verzweifelten Alberto Scampi knipsten ihm das düstere Lebenslicht aus, sondern die Detonation einer Autobombe sprengte ihn samt seines Nobelschlittens in die Luft". Verblüfft über diese Neuigkeit brauchte Lukas einen kurzen Moment des Überlegens, dann aber rieb er sich erleichtert die Hände: "Umso besser. Dann ist Alberto Scampi also auf freiem Fuß und kann vielleicht mit Hilfe der Polizei sogar seine Tochter noch aus den Fängen des ägytischen Scheichs retten?!". Vater Svensson aber winkte erneut ab: "Ach, Sohnemann. Du hast ja keine Ahnung! Aber wie solltest Du auch! Was das Wissen um die mögliche Zukunft angeht, sind Dir Deine Mutter und ich schließlich immer noch um Meilen voraus. Aber Du kannst gleich wieder ein paar Meter zu uns aufholen".

Und damit packte er seinen Sprößling bei den Schultern und drehte ihn auf der Stelle in Richtung der kleinen Kapelle mit ihrer gebeizten Tür um - jener Tür, auf welcher gerade eben jetzt in silbernen Ziffern die Zahl 14 erschien. Und während die drei Svenssons eiligen Schrittes auf das große Türchen zuliefen, öffnete es sich, und der dunkle Innenraum erhellte sich zusehends bis hin zu einer supernovaähnlichen Intensität, die die Drei bei ihrem Eintreten förmlich in sich verschluckte ...

Türchen No. 14: Ein Leben voller Hiobsbotschaften - BITTE ANKLICKEN!

Irgendwo in einer Seitenstraße der Londoner City spuckte der Lichttunnel die Svenssonfamilie wieder aus. Geschäftiger Lärm empfing die Drei, und der Duft gebratenen Hühnerfleischs - vermischt mit einem weihnachtlichen Hauch von Orangen und Zimt - stieg ihnen in die Nase. Aus dem Fenster eines Hochhauses heraus gab ein einsames Radio die letzten Töne des Weihnachtsklassikers "It's befinning to look a lot like Christmas" zum besten, an die sich unmittelbar die Stimme eines männlichen Moderators anschloß: "Ho, Ho, Ho ... es ist jetzt exakt 7 Uhr 24". Lukas Svensson schaute sich um. Die schmale Gasse wirkte dunkel und schmutzig. Sie bildete anscheinend die Rückfront einer großen Geschäftsstraße und nahm daher all die Abfälle der Zivilisation in sich auf, die Auge und Nase der wohlsituierten, zahlenden Kundschaft auf der anderen Seite nicht zugemutet werden sollten. Überall standen kleine Blechtonnen und große Müllcontainer, die größtenteils bereits überliefen von Verpackungsmaterial oder diversen Küchenabfällen. Das Mauerwerk der umgebenden Häuserwände war alt und rissig. Wer hier hauste, lebte nun wahrlich nicht auf der Sonnenseite.

Lukas war jetzt froh, vor Antritt der Reise auf seine Mutter gehört zu haben, als sie ihm riet, sich seinen Trenchcoat anzuziehen. Es war nämlich inzwischen doch schon recht kühl geworden. Und so zog er nun mit einem einzigen Ruck den Reißverschluß des warmgefütterten Regenmantels bis an den Hals heran zu und verbarg beide Hände in dessen Taschen. Von einem Fuß auf den andern tretend, drehte er sich langsam zu seinen Eltern um. Und schließlich fragte er seinen Vater, mit seinem Atem kleine Wasserdampfwölkchen in die kalte Morgenluft aussendend: "Dad, was tun wir hier? Ich sehe weit und breit niemanden, den wir besuchen könnten?!". Vater Svensson erwiderte: "Doch, es gibt hier jemanden, den Du kennst. Sieh mal ein wenig genauer hin!". Und damit deutete er auf einen leerstehenden Laden mit zum Teil eingeworfenen Fensterscheiben, an dem ein Schild in roter Schrift "Zu verkaufen" verkündete. Über dem Laden war ein weiteres Schild angebracht. Anscheinend stammte es noch vom Vorbesitzer, denn die Aufhängung hatte sich bereits an einer Seite komplett gelöst, so daß es herunterhing und sich im kühlen Windzug klappernd bewegte. Lukas mußte seinen Kopf ein wenig verdrehen, um die Aufschrift lesen zu können: "Albertos Obst & Gemüse Oase - Inhaber: A. Scampi".

Schlagartig erinnerte sich Lukas wieder. Ja, natürlich, hier war er schon einmal gewesen, als er damals Francescas Vater die traurige Mitteilung vom Tod seiner einzigen Tochter hatte überbringen müssen - jener Francesca Scampi, die nun - in der Alternativversion der Zukunft - bereits im ägyptischen Harem angekommen sein dürfte. Zwei Häuser weiter mußte sich doch dann auch das Wohnhaus der Familie Scampi befinden. Der Ex-Inspektor war schon auf dem Sprung dorthin, als ihn seine Mutter sanft am Kragen seines Regenmantels packte und festhielt: "Dort wirst Du Alberto Scampi nicht antreffen, Lukas, mein Junge. Das Haus ist über Nacht ausgebrannt. Im Polizeibericht steht zwar, daß der Funke einer defekten elektrischen Leitung das Feuer auslöste, aber in Wirklichkeit hat da jemand ein wenig nachgeholfen". Sohnemann Lukas verstand: "Dieser verfluchte Schattenmann mal wieder. Vater Scamoi war ihm bei seinen skrupellosen Plänen mit der kleinen, bedauernswerten Francesca im Weg, wie?! Und nun ist auch dieser arme alte Mann tot, nicht wahr?!". Mutter Scampi schüttelte eifrig den Kopf: "Nein, Schatz! Er lebt, und er ist sogar näher, als Du ihn vermutest". Und nun deutete auch sie - wie bereits ihr Mann zuvor - auf den kleinen heruntergekommenen Gemüseladen. Links neben dem Geschäft registrierte Lukas erst jetzt einen kleinen, mit einem Eisengitter verbauten Verschlag, in dessen dunklem Innern sich wohl einst die Abfallbehälter des Gemüsehändlers befunden haben mußten. Der Ex-Inspektor machte ein paar Schritte darauf zu und schaute durch die Gitterstäbe hindurch.

Auf dem Betonboden lag direkt hinter dem Gitter eine bunte Matratze mit einem ausgewaschenen blauen Laken, welches lose darübergeworfen war. Mitten im Raum stand ein offensichtlich defektes metallenes Einkaufswägelchen mit unzähligen an- und übereinander gestapelten bunten Plastiktüten darin. Und ganz hinten rechts war noch ein einsamer Besen an die Wand gelehnt. Mehr gab es hier nicht zu sehen, denn ansonsten schien der Raum leer. Aber halt, da hinten in der Ecke bewegte sich ja etwas. War es eine Ratte?! Nein, dafür war der Schatten zu groß. Was da langsam aus der Dunkelheit herauskroch, war vielmehr ein Hund - eine erbärmlich abgemagerte Kreatur mit schmutzigem Fell. Mehr kriechend als laufend bewegte sich das Tier auf die blau überdeckte Matratze zu. Und nun begann es sich auch dort - unter dem blauen Tuch - zu regen und zu bewegen. Lukas tat erschrocken einen Schritt zurück. Der Kopf eines Mannes kam unter dem Laken hervor, und Lukas erkannte in dem Mann sofort Alberto Scampi wieder. Der alte Mann, der scheinbar bis eben auf der Matratze am Boden genächtigt hatte, erhob sich langsam gähnend von seinem Lager. Unter einer schäbigen, wärmenden Jacke trug er einen angegrauten, einst weißen Wollpullover. Über Füße und Hände hatte er jeweils ein paar dicke Wollsocken gestülpt, wobei in die Socken an den Händen Löcher für die Finger eingeschnitten waren.

Alberto Scampi ließ seine Finger durch diese Löcher gleiten, zog sich gemächlich die abgenutzten gefütterten Armeestiefel über, die er am Vorabend neben der Matratze abgelegt hatte, und streichelte dann dem inzwischen angekommenen Hündchen sacht über das reudige Fell: "Ach, Franca, mein Sonnenschein. Wieder ein neuer Tag und eine neue Arbeitswoche für die Menschen da draußen. Und was machen wir Zwei mit dem angebrochenen Montag. Richtig, Du kriegst jetzt erstmal Fresserchen!". Damit öffnete er die Gittertür seines Verschlags, wobei Lukas sofort wieder an die letzte Begegnung mit Alberto im Gefängnis erinnert wurde. Der alte Scampi begann, kreuz und quer durch die Gasse zu laufen und schaute in jede Mülltonne. In einigen wühlte er ein wenig länger und beförderte hier und da ein paar Essensreste zutage, die er auf einem inzwischen mitgeführten, umgedrehten Aluminiumdeckel ablegte. Nach einigen Minuten kehrte er um, und servierte dem mit heraushängender Zunge geduldig wartenden Hündchen seine Fundstücke. Anschließend holte er noch eine kleine, mit Wasser gefüllte Blechdose von draußen und reichte sie seiner dankbar aufschauenden tierischen Gefährtin. Er selbst ließ sich noch einmal kurz auf der Matratze nieder und griff dabei in seine Jackentasche, aus der er sogleich ein paar lose Münzen herausfischte. Dann murmelte er leise: "So, und nun hat Dein Herrchen auch ein wenig Hunger. Das Kistenstapeln im Hafen hat mir gestern neben Rückenschmerzen und einer Platzwunde am Schienbein ja zum Glück auch ein paar gute englische Pfund eingebracht, die ich jetzt getrost in ein bescheidenes Frühstück investieren kann. Aber vorher gehts noch zum Bahnhof". Und mit dem Zeigefinger auf den verbeulten Einkaufswagen mit den Tüten deutend, ergänzte er, an die Adresse der Hündin gerichtet: "Und Du, mein Mädchen, paßt mir hier schön auf unsere Schätze auf!". Und während Franca vor ihrem Freßnapf zu nicken schien, erhob sich der alte Scampi und entschwand durch die Gittertür.

Die Svenssons folgten ihm bis zur Victoria Station, wo an einer kleinen Imbißbude abseits vom Haupteingang schon eine Gruppe ähnlich armseelig gekleideter Männer um einen Stehtisch versammelt war und ihm mit Bierflaschen in den Händen zuprostete. Einer der Männer winkte dabei ab und lallte dann: "Ach, dann eben nicht! Der ist sich zu gut, um mit uns armen Schluckern hier einen zu saufen, der feine Pinkel!" Lukas war erleichtert. Trotz seiner mißlichen Lage war aus Alberto Scampi scheinbar kein Trinker geworden. Vater Joseph führte den Gedanken seines Sohnes weiter: "Nein, im Gegenteil. Jeden Morgen begibt er sich hier auf die Bahnhofstoilette und wäscht dort sich und freitags auch seine Kleidung, die er dann bei einem Chinesen in der Nähe seiner Schlafstätte zum Trocknen aufhängen kann. Seine gesamte Habe hat er sorgsam und ordentlich zusammengelegt in Plastiktüten in seinem Einkaufswagen verstaut, der für ihn so etwas wie ein mobiler Wohnzimmerschrank ist. Sogar ein paar Bücher finden sich darin, die er abends vor den Schlafengehen im Schein der Leuchtreklamen studiert. Meist nimmt er dabei eine alte abgegriffene Bibel zur Hand, die seine Francesca einst von ihm zur Taufe geschenkt bekommen hatte und liest in den Psalmen oder in seinem Lieblingsabschnitt - dem Buch Hiob. Jeden Sonntagmorgen aber holt er in seiner Behausung hinter ein paar losen Stein aus einem Versteck in der Mauerwand eine blaue Weihnachtsplastiktüte mit silbrig-glitzernden Sternen hervor, in der wohlbehütet sein kostbarstes Kleinod schlummert - ein grauer Anzug und ein weißes T-Shirt. Er streift sich beides über, kämmt sich das frischgewaschene Haar sorgfältig nach hinten und geht erhobenen Hauptes in die Kirche, wo er mit den anderen Gemeindemitgliedern gemeinsam Gottesdienst feiert. Nein, mein Junge, trotz all der Niederschläge und bitteren Verluste in seinem armseeligen Leben - seinen Glauben hat Alberto Scampi nie verloren! Und dennoch belastet eine Sache seine Seele schwer. Komm nur, ich zeig es Dir!". Und damit begaben sich die zwei Svenssonmänner, Maria für einen Moment am Eingang zurücklassend, zu den Räumlichkeiten der Bahnhofsherrentoilette.

Hier trafen sie Alberto Scampi gerade bei der Vollendung seiner Morgentoilette an. Mit beiden Händen schaufelte sich der alte Mann ein letztes Mal aus dem Waschbecken heraus eine Ladung frisches Wasser ins Gesicht und betrachte sich dann aufmerksam im Spiegel. Einige Sekunden des Schweigens vergingen, während ein paar Wassertropfen geräuschvoll vom Kinn herunterlaufend auf den rotgefliesten Boden prallten. Dann meldete sich plötzlich im Spiegel Albertos Vis-a-vis zu Wort: "Was starrst Du mich so vorwurfsvoll an? Ich hab nichts verbrochen! Gott hatte mich einstmals reich beschenkt: Ich hatte eine wunderbare Frau, eine zauberhafte Tochter, ein schönes Haus und ein gutgehendes kleines Geschäft. Ich war glücklich und zufrieden. Doch dann hat mir das Schicksal ohne ersichtlichen Grund nach und nach alles wieder genommen. Erst starb meine geliebte Frau Rosa bei ihrer zweiten Herzoperation, dann ging mein Gemüseladen pleite. Mein Töchterchen wurde brutal geschändet und verschwand daraufhin spurlos. Und zuletzt hat mir Spirellis Nachfolger auch noch das Haus überm Kopf abgefackelt. Es grenzt an ein Wunder, daß ich in jener Nacht überhaupt noch den Flammen entkommen konnte. Und doch wird man nur selten eine Klage aus meinem Mund vernehmen: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Amen!".

Sich mit geballten Fäusten vom Waschbecken abstoßend verließ Alberto Scampi den Raum. Und mit ihm verschwand auch sein ach so redseliges Spiegelbild. Lukas und sein Vater aber folgten dem Entschwindenden durch die weiträumige Bahnhofshalle und über den Bahnhofsvorplatz nach, wo ihm seine Leidensgenossen von ihrem Stehplatz aus zum Abschied erneut zuprosteten. Nur der ewig verbissen Dreinschauende, den sie in ihren Kreisen Diabolo nannten, rief dem fortlaufenden Alberto verächtlich nach: "Wo rennst Du denn wieder so eilig hin? Zum Pfaffen? Deine Sünden beichten? Dein komischer Gott wird Dir eh nicht helfen, Du alter Narr!". Alberto aber hörte ihm gar nicht zu, er stammelte nur weinend vor sich her: "Ach, wenn meine kleine Francesca mir doch nur je vergeben könnte! Die Last, die mir jene schwere Schuld auf die Seele legt, wird mit jedem neuen Tag größer und erdrückender!". Und zum Himmel schauend, flehte er: "Francesca, mein Engel, vergib mir!". Lukas, der dem Flüchtigen inzwischen wieder mit beiden Elternteilen folgte, sah seine Mutter fragend an, worauf Maria erklärte: "Bei dem Wohnungsbrand ist auch das Tagebuch Francescas ein Opfer der Flammen geworden. Und so wird er ohne Dich und die Notizen seiner Tochter wohl nie erfahren, daß sie ihm längst vergeben hatte. Am Ende wird er aus lauter Gram darüber doch noch zugrunde gehen".

Lukas blieb traurig stehen und bemerkte, daß sie inzwischen allesamt wieder in der schmutzigen Gasse mit dem Verschlag neben dem Gemüseladen angelangt waren, wo Alberto Scampi sich beim Chinesen um die Ecke ohne rechten Appetit von seinem spärlichen Lohn eine sauer-scharfe Suppe genehmigte. Hündin Franca aber ruhte brav zu seinen Füßen und schaute untertänig zu dem schluchzenden alten Mann herauf. Svensson junior grübelte derweil in ein paar Metern Entfernung und meinte schließlich mehr zu sich selbst als zu seinen Eltern: "Der arme Alberto. Und dabei ist er doch eine Seele von einem Menschen. Womit hat er das nur verdient, daß er so leiden muß? Wie hält er das alles überhaupt aus, ohne den Wunsch zu verspüren, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen?". Maria drückte das langsam sinkende Haupt ihres Sohnes fest an sich: "Ja, weißt Du, er spürt trotz allem, was für ein Geschenk jedes Leben ist und daß er gebraucht wird. Von seiner Hündin Franca und dem streunenden schwarzen Kater Sergio, dem er hin und wieder in seinem Verschlag Schutz vor heimtückischen Katzenfängern bietet. An seinem Leben hängen eben auch die Schicksale anderer, sogar das Schicksal Deines guten Freundes ...". Joseph Svensson legte ruckartig seine rechte Hand über den Mund Marias: "Du sollst doch nicht immer alles verraten, mein Engel! Laß den Jungen nur selbst sehen!". Noch im gleichen Moment tauchte die Tür von Albertos ehemaligem Geschäft in das vertraute grelle Licht, welches gleichzeitig eine große dunkle 15 in das Türholz zu brennen schien. Und die drei Svenssons tauchten einmal mehr ab in jenem strahlenden Zeitreisetunnel ...

Türchen No. 15: Unter die Räuber geraten - BITTE ANKLICKEN!

Die Landezone, in der die Reise durch die Zeit diesmal endete, kam Lukas sofort unheimlich bekannt vor. Er mußte sich nur einmal ganz flüchtig umschauen und erkannte in ihr den eben erst verlassenen, weiträumigen Bahnhofsvorplatz der Victoria Station wieder. Sogar der kleine Imbißwagen mit dem Stehtisch stand noch da, wenngleich es auch ringsum ziemlich dunkel geworden und die Gruppe der Obdachlosen inzwischen verschwunden war. Stattdessen erspähten die geschulten Augen des Ex-Inspektors einen Augenblick später die Gestalt Alberto Scampis unter den Menschen, die in diesem Moment dem Haupteingang des Bahnhofsgebäudes entströmten. Er trug eine Blechdose in Händen, die er zuvor - wie jeden Abend - auf der Bahnhofstoilette randvoll mit Wasser gefüllt hatte und die er nun vorsichtig zu seinem Schlafplatz zu bringen gedachte, tunlichst bemüht, keinen Tropfen des kostbaren Naß zu verschütten. Schließlich brauchte seine Hündin Franca am nächsten Morgen etwas, um ihren Durst stillen zu können.

Während der alte Scampi mit seiner wertvollen Fracht über den Vorplatz schlich, wandte sich Lukas verblüfft an seinen Vater: "Dad, bist Du Dir sicher, daß uns diesmal beim Reisen kein Fehler unterlaufen ist? Bei Alberto Scampi waren wir doch gerade erst!". Joseph Svensson schüttelte lächelnd den Kopf: "Nein, mein Sohn, wir sind hier goldrichtig gelandet. Um Herrn Scampi geht es uns momentan nämlich gar nicht, zumindest nicht vorrangig. Vielleicht lenkst Du Deine Aufmerksamkeit erst einmal genauer auf den kleinen Stehimbiß?!". Lukas tat, wie ihm geheißen, und entdeckte sogleich an der Unterkante des Imbißwagens einen dunkelroten Schriftzug mit einem, ihm nur allzu vertrauten Namen: Yusuf Kebab. Und nun sahen seine weitaufgerissenen Augen im Innern des Wagens hinter der Theke auch jenen Mann, den er seit einer halben Ewigkeit zu seinen engsten Freunden zählte und der ihm im Yard viele Jahre lang den Schlagbaum geöffnet hatte - stets einen flotten Spruch auf den Lippen.

Maria Svensson trat von hinten an ihren Sohn heran und hauchte ihm ins Ohr: "Man hat ihn im Zuge einer von Crawlers Kündigungswellen entlassen und läßt jetzt den Schlagbaum am Yardgelände per Fernsteuerung von der Rezeption aus öffnen. Yusuf aber hat - aufgeschlossen und ideenreich wie eh und je - seinen Nachnamen Kebab kurzerhand zur Geschäftsidee gemacht. Ein Schwager besorgte ihm aus Deutschland einen gebrauchten Imbißwagen, seine anderen zahlreichen Verwandten und Freunde sorgen für Nachschub an Rohstoffen und stellen sich - wenn Not am Mann ist - auch gern mal hinter die Theke. Kurzum: Yusufs mobiler Dönerladen wurde in kürzester Zeit zu einem echten Geheimtip unter Fast-Food-Freunden. Das Geschäft boomte und schon nach einem halben Jahr schrieb Yusuf schwarze Zahlen. Alles könnte so schön sein, wenn ...". Vater Svensson löste an Lukas anderem Ohr seine Frau beim Erklären ab: "... Ja, wenn da nicht wieder einmal unser einflußreicher Schattenmann seine Finger im Spiel hätte. Der Kerl hat eine Nase für alles, was Geld abwirft, und so stellte er in ganz London eine Art flächendeckende Bande von Schutzgeldeintreibern zusammen, rekrutiert aus den Spitzenkräften des hauptstädtischen Unterweltabschaums - aus Mördern, Schlägern und anderen brutalen Gewaltverbrechern. Sie rücken auch Yusuf in regelmäßigen Abständen auf den Leib und wollen ihn zwingen, 80 Prozent seines Umsatzes an sie abzutreten. Bis heute hat er sich noch gegen sie wehren können, aber diesmal ...".

Lukas blickte wieder auf den Imbißwagen, dem sich in dieser Sekunde drei finstere Gestalten näherten, Baseballschläger in den Händen mit sich führend. Und nun nahm der Ex-Inspektor auch wahr, wo Alberto Scampi inzwischen abgeblieben war. Er stand an den Stehtisch vorm Imbiß gelehnt. Sein Wassernapf hatte er darauf abgestellt, während er genüßlich und in aller Ruhe ein Dönerbrot verspeiste. Im Innern des Imbißwagens löschte Yusuf derweil das Licht und band sich die Kittelschürze ab, während Big Bens Glockenspiel zeitgleich weithin hörbar die letzte Stunde vor Mitternacht einläutete. Als endlich der elfte und letzte Glockenschlag verklungen war, verriegelte Yusuf bereits die Vorderklappe seines Wagens mit einem Vorhängeschloß, so wie er es zuvor schon mit der Seitentür getan hatte. Langsamen Schrittes ging er anschließend noch einen Augenblick zu seinem letzten Gast am Stehtisch herüber und wünschte Alberto Scampi einen schönen Abend und eine Gute Nacht. Die dreiköpfige Schlägertruppe aber hatte im Schutze der Dunkelheit in einer besonders finsteren Ecke des Bahnhofsgebäudes Stellung bezogen und wartete dort seelenruhig auf Yusufs Vorbeikommen.

Tatsächlich marschierte der junge türkischstämmige Brite, eine Melodie seines Idols Siyah Kedi auf den Lippen, auf dem Weg zu seinem Auto direkt an ihrem Versteck vorbei. Die Männer traten aus der Dunkelheit heraus und versperrten dem Ahnungslosen den Weg. Blitzartig hatten sie einen Kreis um ihn gebildet und zückten ihre Baseballschläger, mit denen sie ihm abwechselnd bedrohlich vorm Gesicht herumfuchtelten. Der Größte unter ihnen - ein mit Bomberjacke, Uniformhose und Springerstiefeln bekleideter Glatzkopf - raunte: "Na, Kanacke! Wohin denn so eilig? Haben wir da nicht noch eine Kleinigkeit vergessen?! Heute ist nämlich Zahltag für Dich kleinen Lammspießer hier! Machst ja mit Deinem gammligen Fleisch einen ganz schönen Schnitt, wie man hört?! Ich denk mal, Du verdienst so an die 200 Pfund pro Tag, das wären dann in der Woche ...". Hier machte es sich nun deutlich als Nachteil bemerkbar, daß der Kahlkopf nicht mal die Hauptschule erfolgreich abgeschlossen hatte, so daß ihm auch das Zuhilfenehmen seiner zehn schmierigen Finger beim Versuch des Rechnens nicht wirklich weiterhalf. Wutentbrannt stubste er schließlich seinen Nebenmann an - einen spindeldürren Schlipsträger mit Nickelbrille, gestutztem Schnurrbärtchen und frischgekämmten Seitenscheitel - und brüllte: "Ey, Professor! Du bist doch hier der Studierte unter uns! Sag schon!". Umständlich seine Brille auf der Nase hin und her rückend, verkündete der Angesprochene stolz: "1400 gute britische Pfunde, im Monat sogar rund 6000 Pfund und im Jahr ...". Wieder stieß ihm der Glatzkopf unsanft in die Seite: "Ja, das reicht, Klugscheißer!". Beleidigt schaute der Dürre seinen kahlköpfigen Kumpel an und ergänzte dann ein wenig trotzig: "Wie auch immer! Für unseren Chef sind das dann jedenfalls bei 80 von 100 glatte 1120 Pfund am Anfang jeder Woche".

Hier meldete sich nun auch Yusuf zu Wort, der seine Bedränger bisher nur entgeistert angestarrt hatte: "Ey, Mann! Laßt den Scheißedreck! Guckt ihr, daß ihr weiterkommt, ihr Aschelöcher! Denkt Ihr, hab ich Schiß vor Klein Adolf und seine haarlose Sturmtruppe, oder was?!". Der dritte Angreifer - ein muskelbepackter Hüne von fast zwei Metern - erhob bei diesen Worten Yusufs seinen Baseballschläger und ließ ihn dann mit Wucht direkt auf den linken Oberschenkel des Imbißbesitzers niederrauschen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging Yusuf zu Boden, wo sofort von allen Seiten her zahlreiche Schläge und Tritte auf ihn einprasselten, bis der Mißhandelte letztlich das Bewußtsein verlor. Seine Peiniger entwendeten ihm daraufhin noch rasch das Geldbündel, welches seine gesamten Tageseinnahmen darstellte, aus seiner Jackentasche und ließen ihn dann blutüberströmt zurück. Mehrere nächtliche Passanten hatten dem ganzen Schauspiel beigewohnt, sich aber nicht getraut einzugreifen. Und auch jetzt, wo für sie offensichtlich keine Gefahr mehr bestand, waren sie allesamt einfach zu feige, um Hilfe zu rufen.

Lukas, der inzwischen schreiend hinzugeeilt war, lief zwischen den untätigen Zaungästen hin und her und redete dabei mit Feuereifer auf sie ein - bis ihn Vater Joseph schließlich bremste: "Junge, nicht doch, bitte! Sie können Dich doch gar nicht hören!". Aber Lukas packte seinen Erzeuger entschlossen an dessen Anzugjacke und flehte mit heiserer, tränenerstickter Stimme: "Dad, bitte! Er verblutet doch! Wir können ihn doch nicht einfach so sterben lassen! Jemand muß ihm doch helfen!". Joseph Svensson wischte sich mit dem Jackenärmel kurz über die feuchtwerdenden Augen, dann erwiderte er: "Beruhige Dich doch wieder! Alles wird gut! Es gibt ja jemanden, der ihm hilft!". Lukas drehte sich wie wild im Kreis. Doch immer noch machte keiner der schick angezogenen Herrschaften um ihn herum irgendwelche Anstalten, Hilfe zu organisieren. Im Gegenteil: Nach und nach verließen sie allesamt mit abgewandtem Blick den Schauplatz des feigen Verbrechens. Erst als Svensson junior schon schulterzuckend zusammenzubrechen drohte, sah er aus dem Augenwinkel gesenkten Hauptes eine dunkle Gestalt heranschleichen, der mit beiden Händen etwas Rundes fest umklammert hielt. Die näherkommende Person wurde schließlich auf Yusuf aufmerksam und ließ dabei erschrocken ihr mitgeführtes rundes Etwas fallen, das unter lautem Scheppern auf dem steinernen Pflaster des Weges landete. Dann rannte sie kurzentschlossen aus dem Dunkel auf den am Boden Liegenden zu, wobei Lukas endlich erkennen konnte, um wen es sich bei dem selbstlosen Retter handelte, der in diesem Moment ohne zu zögern seinen Mantel auszog und in aller Eile zusammengelegt als Kissen unter den Kopf Yusufs schob. Es war niemand anders als Alberto Scampi, der sich hier als weit und breit einzigster ein Herz gefaßt hatte und dem blutüberströmten Opfer zu Hilfe geeilt war.

Der arme Mann, der selbst nahezu nichts besaß als sein nacktes Leben, riß sich nun auch noch seinen geliebten, wärmenden Wollpulli in Streifen vom frierenden Leib und verband damit notdürftig die unzähligen Wunden Yusufs. Dann eilte er rasch zum Münzfernsprecher in der Bahnhofshalle, holte aus seiner Hosentasche das letzte Sixpence-Stück hervor, warf es ein und wählte die Notrufnummer, wo er der Dame am anderen Ende kurz und knapp den Vorfall schilderte. Innerhalb weniger Minuten trafen die Rettungskräfte vor Ort ein und brachten Yusuf ins nahegelegene "Hospital zum Barmherzigen Samariter". Alberto Scampi jedoch begab sich mit zerrissenem Pullover und seiner blutverschmierten Jacke bekleidet, in den Händen vorsichtig die frisch mit Wasser gefüllte Blechdose tragend, heimlich still und leise zurück zu seinem Schlafplatz, wo seine Hündin schon sehnsüchtig auf ihn wartete.

Maria Svensson trat indes erneut von hinten an den sich langsam beruhigenden Lukas heran und flüsterte ihm zu: "Yussuf kommt dank Albertos Einsatz und der rechtzeitig herbeigerufenen Hilfe durch und behält außer ein paar kleinen Narben und blauen Flecken keine weiteren Schäden zurück. Nach seiner Krankenhausentlassung wird er übrigens mit Hilfe der genauen Beschreibung eines Rettungssanitäters auch seinen selbstlosen Ersthelfer ausfindig machen. Die Beiden freunden sich durch das Erlebte sogar richtig an. Und für Alberto und seine tierischen Schützlinge gibt es Abend für Abend nach 23 Uhr ein umfangreiches, kostenloses Fastfoodmenü, frei Haus geliefert von Imbißchef Yussuf Kebab höchstpersönlich". Vater Joseph, der schon seit geraumer Zeit immer wieder beunruhigt auf seine Armbanduhr sah, trieb nun den Rest seiner Familie zur Eile an: "Genug geplaudert! Es ist schon eine Minute vor Mitternacht, unsere Weiterreise duldet keinen Aufschub mehr!". Und damit riß er seine Lieben mit sich fort und rannte mit ihnen hurtigen Schrittes auf die Drehtür am Haupteingang des Bahnhofs zu, an derem einen Flügel ein kleiner Notizzettel mit einer aufgemalten 16 zu kleben schien. Das rotierende Innenleben jener Drehtür verwandelte sich bei ihrem Eintreffen in eine Art gewaltige Lichtzentrifuge, deren Sog die drei Svenssons unmittelbar in sich aufnahm ...

Türchen No. 16: Die Macht sanfter Berührungen - BITTE ANKLICKEN!

Der Erdboden unter Lukas schien sich einen Moment lang zu drehen, als ihn der kreisende Lichttunnel wieder preisgab. Ihm war schwindlig und ein wenig flau im Magen - ein Gefühl, das er noch aus seiner Kinderzeit kannte, wenn er auf den Londoner Rummelplätzen mit seiner Tante und seinem Onkel Karussell fuhr. Er war ganz vernarrt in dieses merkwürdige Gefühl gewesen. Und so hätte er damals Stunden lang, gemeinsam mit Holzpferd oder Blechauto, im Kreis fahren können - in seiner kindlichen Phantasie hoch zu Roß ferne Welten erkundend und bösen Räubern im Polizeiauto nachjagend. Meist bot ihm nach ein paar Runden die finanzielle Lage seines Onkels Einhalt - mehr als 5 Fahrten pro Rummelplatzbesuch gab das spärliche Einkommen eines Briefträgers einfach nicht her. Und so war er nur allzu oft traurig von der Hand seiner Tante weitergezogen worden, immer wieder einen Blick zurückwerfend auf das langsam am Horizont verschwindende Karussell mit seinen vielen bunten Lichtern.

Heute wie damals dauerte es eine Weile, bis auch das Gefühl des Schwindels in seinem Kopf und das flaue Gefühl im Magen verschwunden waren. Was aber blieb, waren die bunten Lichter - in seiner verklärten Kindheitserinnerung ebenso wie in jenem abgedunkelten Raum, in dem er jetzt auf seiner Zeitreise mit seinen Eltern angekommen war. Lukas schärfte all seine Sinne, um aus ihren Wahrnehmungen Aufschluß zu erhalten, wo sie sich hier wohl befinden mögen. Er atmete tief ein, wobei seine Nase einmal mehr jenen alkoholangereicherten Desinfektionsduft wahrnahm, den er von diversen Besuchen in Krankenhäusern, Heimen und gerichtsmedizinischen Instituten nur allzu gut kannte. An sein Ohr drangen unterdess die monton piependen Geräusche medizinischer Apparate, wie sie zur akustischen Darstellung und Überwachung von Herzfrequenz und Blutdruck benutzt wurden. Und direkt vor seinen Augen bewegte sich in einem durchsichtigen Kunststoffzylinder eine Art Hartgummikolben auf und ab, der offensichtlich unaufhörlich Luft in einen angeschlossenen Schlauch zu pumpen schien. Lukas' Blick folgte den Schlauch, der auf seinem langen Weg noch viele andere, verschiedenfarbige Schläuche und Drähte passierte, bevor er schließlich auf einem weißbezogenen Krankenbett in Höhe des Halses eines darinliegenden Mannes endete. Das Schlauchende bohrte sich dabei über ein Verbindungsstück aus Kunststoff - eine sogenannte Trachealkanüle - direkt in den Hals jenes Mannes, dessen regungsloses Gesicht mit den geschlossenen Augen Lukas in diesem Augenblick als das seines alten Freundes Frank Gumble identifizierte.

Schockiert drehte sich Lukas zu seiner Mutter um und fragte: "Was ist mit Frank passiert?". Maria Svensson wartete einen Augenblick, dann sagte sie: "Ich glaube, das kann Dir ein Fachmann besser erklären". Und damit deutete sie auf einen gerade eintretenden Mann im weißen Kittel eines Arztes, dem eine Frau folgte, in der Lukas sofort Franks Ehegattin Anne wiedererkannte. Die Frau hatte Tränen in den Augen und zitterte am ganzen Körper, während ihr medizinischer Begleiter in ruhigem Tonfall zu reden begann: "Liebe Misses Gumble, Ihr Mann hatte einen schweren seelischen Zusammenbruch, der mit den Anzeichen eines leichten Herzinfarktes einherging. Infolge dieser Krise verfiel sein Körper, scheinbar um Selbstschutz bemüht, in einen komatösen Zustand. Ob und wann Ihr Gatte daraus jemals wieder erwachen wird, läßt sich aus ärztlicher Sicht zum jetzigen Zeitpunkt leider Gottes überhaupt gar nicht einschätzen. Aber ich darf Ihnen versichern, daß wir alles in unserer Macht stehende tun werden, um ihn wieder aufzuwecken und uns dann mittels umfangreicher Therapiemaßnahmen seinem körperliche wie geistigen Vorzustand so weit wie möglich wieder anzunähern. Nur verbindlich versprechen kann ich Ihnen da nichts, so leid es mir tut! Was uns allerdings bei seiner Behandlung helfen würde, wäre, wenn wir wüßten, welche Ursache zu seinem plötzlichen Zusammenbruch geführt haben könnte. Vielleicht haben Sie da ja eine Idee?!".

Anne Gumble nickte und antwortete, ihr Schluchzen und einen langsam in ihr aufsteigenden Zorn gleichermaßen zu unterdrücken versuchend: "Ja, die hab ich allerdings! Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was die Ursache dafür ist, daß mein zuvor kerngesunder Mann nun ohne Bewußtsein an der Schwelle zwischen Leben und Tod vor uns liegt. Er wurde ganz einfach nicht damit fertig, daß man ihn nach mehr als 30 Dienstjahren ohne eine Form des Dankes oder der Anerkennung aus dem Polizeidienst entlassen hat. Die einzige Begründung, die der frischgebackene Herr Chiefsuperintendent Crawler von New Scotland Yard für meinen Mann übrig hatte, gipfelte in dem Satz 'Wir haben einfach keine Verwendung mehr für Sie'. Punkt und aus! Hört sich das nicht an, als würde man einen alten, abgehalfterten Gaul für den Gnadenschuß freigeben?! Und ist es verwunderlich, daß ein sensibler Mensch wie mein Frank da in sich zusammenbricht?!". Sie tat einen Schritt auf das Bett zu, in dem sich der Brustkorb ihres Mannes unter der Bettdecke in ruhigem Takt hob und wieder senkte - den trügerischen Verdacht erweckend, er würde dies aus eigenem Antrieb tun. Ein Verdacht, der rasch entkräftet wurde, wenn man jenem Schlauch in seinem Hals in entgegengesetzter Richtung bis zum Zylinder der Beamtmungsmaschine folgte. Anne Gumble hatte genau das getan und sank bei jenem Anblick verzweifelt in die Knie. Ihr Haupt fiel auf das Fußende des Krankenbettes ihres Mannes, während sie die Hände überm Kopf zusammenschlug: "Mein Gott, warum nur?! Warum tust Du uns das an? Wie soll es jetzt nur weitergehen? Was soll ich nur unsern Töchtern Crissy und Mary sagen?".

Anne Gumble vergaß in ihrem Seelenschmerz alles um sich herum. So vernahm sie auch nicht das starke Surren und Vibrieren des Piepers, der in der Brusttasche des hinter ihr stehenden Arztes klemmte. Der Doktor warf einen kurzen Blick auf das Display des Geräts und tippte dann der knienden Ehefrau seines Komapatienten behutsam auf die Schulter: "Frau Gumble, lassen Sie bitte den Mut nicht sinken, wir tun alles Menschenmögliche, um ihren Mann wieder gesund zu machen! Wenn er die nächsten 24 Stunden ohne Komplikationen übersteht, dann seh ich für ihn gute Chancen. Und falls Sie noch irgendwelche Fragen haben, dann wenden Sie sich jederzeit vertrauensvoll an mich. Mein Name ist Doktor Bauer". Damit verließ er eiligen Schrittes das Krankenzimmer, die Tür zum Korridor aber blieb dabei offen stehen.

Einige Augenblicke später kam auf eben jenem Korridor eine junge Frau vorbei, recht spärlich und dadurch umso aufreizender gekleidet. Den rechten Unterarm hatte sie mit einem Papiertaschentuch umwickelt, auf welchem ein roter Fleck andeutete, daß sich darunter scheinbar eine offene Wunde befand. Die Frau schaute sich einige Male hilfesuchend auf dem menschenleeren Flur um und erblickte dann durch die offenstehende Zimmertür die immer noch über das Bett ihres Mannes gebeugte Anne Gumble. Schließlich faßte sich die junge, leichtverwundete Frau ein Herz und klopfte am Türrahmen des Krankenzimmers an, worauf Misses Gumble sogleich erschrocken den Kopf hob und völlig entgeistert zu ihr herüberstarrte. Erst jetzt nahm auch Lukas Svensson die junge Frau vor der Tür wahr, bei der es sich um niemand anderes als Claudine Villfort handelte - jene Madame Claudine, die als Domina den Club "Painful Joy" betrieb und vertrauliche Informationen ihrer Kunden an den großen, unbekannten Strippenzieher im Hintergrund weitergab.

Claudine betrat das Zimmer und reichte Anne Gumble zur Begrüßung freundlich die linke Hand. Misses Gumble erwiderte den Gruß und nutzte den Handschlag gleichzeitig, um sich von ihrem unerwarteten Gast aufhelfen zu lassen. Und während sich Franks Frau langsam erhob, sprudelte es bereits wie ein Wasserfall Wort um Wort aus Claudines Mund heraus: "Ach, was bin ich froh, hier endlich mal auf ein menschliches Wesen zu treffen! Ich heiße Claudine Villfort, aber Du kannst ruhig Claudine zu mir sagen! Ich wollte zur Rettungsstelle, weißt Du! Dabei hab ich mich irgendwie verlaufen, und nun find ich hier einfach nicht mehr raus zwischen all den Gängen mit den vielen verschiedenen Stationen. Ich war schon auf der Gyn und der Inneren, stand schon vorm Kreißsaal und der Pathologie. Aber nirgends hat mir jemand verraten können, wo hier die Rettungsstelle mit der Notaufnahme ist. Keine Sorge! Was ich hab, ist nix Schlimmesn - nix Ansteckendes, oder so! Ein Kunde hat mich im Eifer des Gefechts in den Arm gebissen. Der hat das Hündchenspiel anscheinend ein wenig zu ernst genommen. Ich bin nämlich Domina, weißt Du?! Tja, und da man ja in meiner Branche nie so recht weiß, was einem die eh schon erregten´Typen alles so an Erregern mit anschleppen, wollt ich die Wunde lieber gleich fachmännisch begutachten lassen. Vielleicht hatte der ja Tollwut oder noch was Schlimmeres". Erst jetzt, als ihr Anne Gumble Auge in Auge gegenüberstand, bemerkte Claudine deren Tränen. Und ihrem schluchzenden Gegenüber mit der wieder freigewordenen linken Hand sacht über die Wange streichelnd, fragte sie besorgt: "Du weinst ja! Was ist denn mit Dir? Ach, Du meine Güte, ich laber Dich hier mit meinem Kram zu, und Du machst Dir Sorgen um Deinen Mann, dem es offensichtlich viel schlechter geht als mir mit meinem blöden kleinen Wehwehchen. Tut mir leid! Kann ich Dir irgendwie helfen?!".

Dabei fiel Claudines Blick unversehends auf das Bett und den regungslos Darinliegenden, und ihre tiefen blauen Augen weiteten sich augenblicklich: "Oh, nein! Aber den Herrn kenn ich ja!". Das aufsteigende, fassungslose Entsetzen in Annes Augen registrierend, ergänzte sie rasch: "Nein, nein! Dein Mann ist kein Kunde von mir! Im Gegenteil! Vor Jahren haben die Bullen mich mal hops genommen und aufs Revier geschleppt, wo ich stundenlang von einem Sergeant Slimer verhört wurde. Ein ekliger Typ, sag ich Dir! Der wollte alles haargenau wissen von meinem kleinen intimen, französischen Kundengespräch auf der Bahhofstoilette. Man konnte förmlich sehen, wie ihm dabei der Geifer aus den Mundwinkeln tropfte. Und wie der mich ansah! Beim Blick in mein tiefes Dekolte sind ihm dann bald die Augen rausgesprungen. Zwischendurch hat er mich immer wieder als billige Hure beschimpft und gleichzeitig anzugrapschen versucht. Weißt Du, diese schmierigen Kerle, die verächtlich auf Dich runterschauen und Dir trotzdem an die Wäsche wollen, das sind die Schlimmsten! Dein Mann, der damals an der Schreibmaschine saß und das Verhörprotokoll tippte, war da ganz anders. Er hat seinen miesen Kollegen richtiggehend angeschnarcht, er solle gefälligst seine Finger von mir lassen. Und dann hat er mir noch seine Uniformjacke rübergereicht, damit ich den Blicken des Schleimers nicht so schutzlos ausgeliefert war. Ein echter Gentleman, den Du da hast, Kleines! Was ist denn nur mit ihm geschehen?".

Anne zuckte betrübt mit den Schultern: "Mein Frank ist einfach so zusammengebrochen und ins Koma gefallen. Und die Ärzte wissen nicht, ob er überhaupt jemals wieder aufwacht". Claudine trat zu Annes Erstaunen sogleich entschlossen an das Bett heran und sagte: "Ach, was wissen die Weißkittel schon?! Die halten sich nur ewig bedeckt, weil sie bei jeder nicht dreifach medizinisch abgesicherten Aussage gleich Schadensersatzansprüche vonseiten der Patienten oder ihrer Angehörigen wittern. Weißt Du, ich hab in meiner Jugend mal eine Ausbildung zur Physiotherapeutin begonnen, bis mir mein damaliger Freund Rosinen von einer möglichen Filmkarriere in den Kopf setzte. Da hab ich meine Lehre einfach geschmissen und landete schließlich bei einem Produzenten sogenannter Erwachsenenfilmchen. Nur vorübergehend als Sprungbrett fürs große Kino, hieß es! Aber der einzige Sprung, den ich von da machte, war der in ein elendes, morastiges Dreckloch - randvoll gefüllt mit Prostitution, Erpressung, Erniedrigung und Gewalt, in dem ich steckenblieb und jetzt bereits bis zum Hals versunken bin! Aber etwas von meiner kurzen Lehrzeit ist in meinem Köpfchen hängengeblieben. Was ein Komapatient wie Dein Frank braucht, ist vor allem liebevolle Zuwendung, die in sein Unterbewußtsein vorzudringen vermag und ihn zurückholt ins Reich der Lebenden. Paß mal auf!" Und damit schnappte sie sich kurzerhand eine Flasche Körperöl, die auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett stand, und schlug dann mit einem Ruck Franks Bettdecke beiseite.

Franks trotz seines Alters gut durchtrainierter, bis auf eine Boxershorts entkleideter Körper kam zum Vorschein und mit ihm die Tätowierung eines Katers auf seinem rechten Oberarm, welche noch aus seiner Zeit bei einer Sondereinheit der Army, den sogenannten "Black Cats", stammte. Ohne einen Moment zu zögern, verrieb Claudine ein wenig Öl in ihren zarten Händen, stieg vor Annes Augen aufs Bett, setzte sich dort direkt aufs Franks Unterschenkel und begann, ein wenig nach vorn gebeugt, das Öl auf dem starkbeharrten Brustkorb des Komapatienten einzumassieren. Sie verrieb es in aller Ruhe gleichmäßig über den ganzen Oberkörper und träufelte sich dann erneut ein paar Tropfen in die Handflächen, um auf die gleiche Art auch die Arme und die Oberschenkel einzuölen. Zu der noch immer wie angewurzelt dastehenden Anne aber sprach sie: "Schätzchen, keine Sorge, ich tu nichts Unanständiges mit ihm! Vertrau mir! Und vor allem rede mit ihm! Sag ihm, daß Du ihn liebst und brauchst und was Du Dir am meisten auf der Welt wünschst! Vor allem aber glaube - glaube daran, daß er aufwacht!". Anne zögerte keine Sekunde. Eine innere Stimme sagte ihr, daß diese fremde Frau recht hatte, und daß es kein Zufall war, daß sie gerade jetzt hier erschienen war. Und so beugte sie sich zu Franks linkem Ohr herunter und flüsterte liebevoll: "Frank, Liebster! Wach doch bitte wieder auf, unsere Kinder brauchen ihren Papa, und ich brauche Dich! Ich liebe Dich über alles und vermisse Dich und Deine wärmende Nähe so sehr! Ich wünsche mir nichts mehr auf der ganzen Welt, als daß Du wieder erwachst und zu mir zurückkehrst. Du sollst leben! Nein, mein Liebling, Du darfst wieder leben!".

Die Intensität des Piepens der medizinischen Geräte erhöhte sich plötzlich deutlich hörbar. Und auch die Ausschläge der wellenförmigen Kurven auf den verschiedenen Monitoren nahm sichtlich zu. Franks Brustkorb begann sich unter Claudines Händen spürbar schneller zu heben und zu senken, obwohl sich das Tempo des Kolbens im Beatmungsgerätzylinder keineswegs verändert hatte. Nur Sekundenbruchteile später schlug Frank Gumble die Augen ein erstes Mal zaghaft auf, dann noch ein zweites und ein drittes Mal. Und schließlich formten seine noch so müden und ausgetrockneten Lippen sogar ein leise gehauchtes "Anne". Der inzwischen hinzugeeilte Doktor Bauer bat Claudine aufgeregt vom Bett herunter und kontrollierte dann sprachlos eigenhändig alle Vitalfunktionen seines wiedererwachenden Patienten. Erst nach unzähligen Tests resümierte er schließlich immer noch ein wenig ungläubig: "Das ist unmöglich! Es grenzt an ein Wunder! Ja, ein echtes Wunder ist das! Noch nie hab ich erlebt, daß ein Komapatient so plötzlich und scheinbar ohne jegliche Spätfolgen wieder erwacht ist". Und abwechselnd Claudine und Anne anstarrend, ergänzte er voller Bewunderung: "Keine Ahnung, wie sie Beide das gemacht haben, aber sie verdienen dafür meinen tiefsten Respekt - als Arzt ebenso wie als Mensch! Wenn es irgendetwas gibt, was ich zum Dank für sie tun kann, dann sagen sie es nur!".

Claudine fand als erste der beiden Frauen die Sprache wieder: "Nun, Doktorchen, ich wüßte da schon was! Sie könnten sich mal flugs meinen Unterarm anschauen, da bin ich nämlich gebissen worden". Doktor Bauer nickte eifrig: "Mach ich sofort!". Doch Anne Gumble zügelte seinen Tatendrang noch einen Moment, indem sie sprach: "Nicht so schnell! Ich muß mich erst noch bei Ihrer neuen Patientin bedanken. Ohne sie hätte wohl keiner von uns meinen Frank so rasch wieder aufzuwecken vermocht". Und damit drückte sie Claudine ganz fest an sich. Sichtlich gerührt lagen sich beide Frauen minutenlang schluchzend in den Armen, bis Annes neue Freundin schließlich meinte: "So, genug gekuschelt, Schätzchen! Sieh zu, daß Du Deinen Frankie ruckzuck wieder auf die Beine bekommst! Ich freu mich, daß ich ihm auch mal einen kleinen Gefallen tun konnte, so wie er mir damals auf dem Revier. Vielleicht besucht ihr Zwei mich ja auch mal! Ne, nicht im Club! Da sind meine Tage wahrscheinlich eh gezählt. Die Erfahrung hier hat mir nämlich gezeigt, daß ganz andere Talente in mir schlummern, als mit schmierigen gutbetuchten Herren an der Leine gassi zu gehen und ihnen die noblen Hintern zu versohlen. Es ist unter Umständen ja doch noch nicht zu spät, dem Morast zu entkommen! Würdest Du mir dabei unter Umständen Deine und Franks helfende Hand reichen?". Anne nickte übers ganze Gesicht strahlend: "Ja, das tu ich! Einmal Aufrichten hast Du schließlich noch bei mir gut!". Claudine gab Anne zum Abschied einen Kuß auf die Stirn und entschwand dann, Doktor Bauer unterhakend, aus ihrem Blickfeld.

Und während Anne Gumble sich nun wieder um ihren Mann kümmerte, warf Vater Joseph noch einen kurzen Blick in die mögliche Zukunft: "Frank wird wieder vollständig gesund. Und ja, es ist tatsächlich ein Wunder, vollbracht durch die Sanftmut einer Sünderin, der zuvor selbst Hilfe und Vergebung zuteil wurden. Mit Franks und Annes Unterstützung entkommt Claudine Villfort schließlich sogar den Krallen des finsteren Schattenmanns. Es gelingt ihr, in Irland unter anderem Namen ein neues Leben als Physiotherapeutin zu beginnen, die noch vielen kranken Menschen erfolgreich zu helfen vermag. Frank aber kann dank seiner Genesung ein Geheimnis lüften, das er zuvor - scheinbar unwiderbringlich verloren - mit ins Koma genommen hatte. Ein Ermittlungsergebnis seines letzten, unabgeschlossenen Falles bei der Transportpolizei, den er gemeinsam mit Wasserschutzpolizist Phillip Young bearbeitet hatte, und der unter anderem auch die Frage nach dem Verbleib der verschwundenen Francesca Scampi betraf. Gumble und Young hatten dabei die Spur des Mädchens über die "Tita Nick II" bis nach Ägypten verfolgen können, für diese Erkenntnis aber bei ihren Vorgesetzten seinerzeit einfach kein offenes Ohr gefunden. Nun aber gelingt es dem wiedererwachten Frank Gumble über seine alten Kontakte zu den "Black Cats" in einer geheimen Nacht- und Nebelaktion, die geschwächte Francesca aus ihrer ägyptischen Gefangenschaft zu befreien und außer Landes zu schmuggeln, um auch ihr irgendwo in den Weiten des schottischen Hochlands - fernab vom Dunstkreis des Schattenmanns - eine neue Existenz zu ermöglichen ... So, damit aber wieder einmal genug in die fernere Zukunft geblickt, in der näheren warten ja schließlich noch ein paar Türchen auf uns".

Lukas nickte zufrieden. Zum ersten Mal sah er sich auf der Zeitreise auch mal mit einer positiven Entwicklung konfrontiert. Das ließ endlich wieder hoffen! Er warf zum Abschied noch einmal einen flüchtigen Blick auf das sich vorsichtig in den Armen liegende Ehepaar Gumble - wobei er sofort wieder an sich und seine geliebte Yelena erinnert wurde. Leise seufzend folgte er schließlich schnellen Schrittes seinen Eltern, welche bereits im plötzlich aufgetauchten Lichtkegel der Krankenzimmertür mit der Zimmernummer 17 seinem Blick entrückt waren ...

Türchen No. 17: Die Umkehr eines Verlorengeglaubten - BITTE ANKLICKEN!

Das grelle Licht des die Svenssons auf ihrer Reise umgebenden Tunnels verschwand, und was zurückblieb, war Dunkelheit. Auch als sich Lukas' Augen an die Umgebung gewöhnt hatten, blieb es in dem Raum, in dem er und seine Eltern sich jetzt befanden, immer noch recht finster. Einmal mehr schweifte der Blick des Ex-Inspektors herum und erkundete das Neuland des ihn Umgebenden. Die Fenster des Raumes waren allesamt mit Pappkartons abgedunkelt, was Lukas sofort an die Erzählungen seines Vaters aus seiner Kinderzeit erinnerte. Joseph Svensson hatte seinem Sprößling damals vorm Schlafengehen nämlich immer von der Zeit in ihrer Heimatstadt Königsberg berichtet, die heute Kaliningrad heißt und auf russischem Territorium liegt. Damals aber, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Königsberg noch zu Ostpreußen und damit zum Großdeutschen Reich gehört. Und Vater und Mutter Svensson wohnten mit dem frischgeborenen Lukas zusammen in einem kleinen Haus am Stadtrand. In den letzten Augusttagen des Jahres 1944 gab es immer wieder Fliegeralarm, der die Einwohner zum Verdunkeln ihrer Wohnungen und auch zum raschen Aufsuchen der Luftschutzkeller zwang. Mehrere Nächte verbrachten so auch Joseph und Maria mit ihrem gerade sechs Monate alten Säugling im Keller unter ihrem Haus, während über ihnen britische Phosphorbrandbomben auf die Stadt niedergingen und weite Teile der wundervollen Metropole in Schutt und Asche legten. Schon damals hatten seine Eltern ihre Flucht geplant, aber es war allen Königsbergern lange bei Androhung der Todesstrafe verboten, ihre Stadt zu verlassen, die die Nationalsozialisten später sogar kurzerhand zur Festung erklärten.

Mutter Maria hatte ihrem Lukas später einmal erzählt, daß sie und ihr Mann erst am Silvesterabend 1944 endlich den Mut zur Flucht fanden, über die Stunden des Jahreswechsels hinweg all ihre Habe auf einen Pferdewagen luden und dann gemeinsam mit ihrem in der Nachbarschaft lebenden Bruder Fritz und dessen Frau Minna in den frühen Neujahrsstunden des Jahres 1945 im Schutze der Dämmerung eilends die Stadt verließen. Wenige Wochen später stand Königsberg eingekesselt und abgeschnitten unter ständigem sowjetischem Beschuß und mußte schließlich Anfang April 1945 allen Widerstand aufgeben und kapitulieren. Zu dieser Zeit aber waren Lukas und seine Eltern nach einem tagelangen, beschwerlichen Gewaltmarsch gen Westen - bei dem noch andere Flüchtlinge zu ihnen gestoßen waren - längst in einem kleinen Dorf nördöstlich von Berlin angekommen, welches den Namen Beetz trug. Und während Joseph und Maria hier später vorübergehend im Keller des gerade von seinen Besitzern verlassenen Gutsschloßes einquartiert wurden, waren Onkel Fritz und Tante Minna zusammen mit einem anderen Ex-Königsberger namens Klops und seinen drei großen, mit Kisten bepackten Pferdewagen weitergezogen in die nahegelegene stark zerstörte Reichshauptstadt. Zwei Jahre später, im Herbst 1947 waren auch Lukas' Eltern in den Ostteil Berlins übergesiedelt, wo sie bis Mitte 1953 lebten und arbeiteten. Nach den Arbeiterunruhen des 17. Juni aber hatten sie sich erneut zur Flucht entschlossen, die sie nochmal weiter nach Westen trieb - genauer gesagt nach Westberlin, von wo aus sie ein britischer Pilot mit einem Flugzeug dann zu ihren Verwandten nach London brachte.

An all das mußte Lukas denken und auch an jenen schrecklichen Unfall, der zwei Jahre später seine Eltern nahm - jene zwei wundervollen Menschen, die er für immer verloren glaubte und die nun für kurze Zeit doch noch einmal in sein Leben zurückgekehrt waren. Der Blick des Ex-Inspektors schweifte erneut durch den dunklen Raum. In einer Ecke stand ein langgezogener Tisch, auf dem drei Computerbildschirme flackerten. In ihrem Licht sitzend erkannte Lukas die Silhouette eines jungen Mannes, der seine beiden Händen - einem Klavierspieler gleich - über die Tasten klimpern ließ. Dabei entstanden auf dem Monitor vor ihm endlose Ketten aus Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen, die der neugierige Svenssonsproß sich gern ein wenig genauer ansehen wollte. Aus diesem Grund trat er ganz dicht an den Computertisch und den davorsitzenden Jüngling heran. Der Bildschirm zeigte im oberen rechten Eck einmal mehr die Lukas bereits vertraute Abkürzung I.O.U., während darunter mehrere kleine Fenster geöffnet waren. Eines von ihnen gehörte offenbar zu einem sogenannten Chatroom, über den man per Internet auf einfachste Art unmittelbar mit anderen Computerbenutzern kommunizieren konnte. Er trug den Namen "www.Noir-Chat.fr" und hatte der Endung jener Adresse zufolge seinen Geschäftssitz irgendwo in Frankreich. Dennoch fand das Gespräch in diesem Chatroom momentan komplett in Englisch statt. Ein Benutzer mit dem Namen "Makk1" schrieb dort: "Hallo HackManT, ich hab wieder einen Auftrag für Sie! Wäre schön, wenn Sie mal wieder 12 Posten Schmutzwäsche für mich zur Reinigung bei Firma D.C. vorbereiten könnten. Auftrag Nummer 16766-O-1421 zu Händen von Frau Ch. Bern. Mein Fahrer holt die Wäsche heute gegen 22 Uhr bei Ihnen ab! Außerdem können sie Herrn G.O. van Ni Bescheid geben, daß ein kleines Singvögelchen aus dem Hause von Familie Palmer entflogen ist. Würde mich freuen, wenn er es einfangen und ihm die Flügel ein wenig stutzen könnte. Vermutlich flattert es auf einem Gartengrundstück in Brockenhurst herum. Fotodatei und Beschreibung des Vögelchens verschlüsselt anbei!".

Der junge Mann am Computer überflog die Textbotschaft auf dem Monitor und hämmerte dann flugs eine Antwort in die Tasten seines Keybords: "Auftrag Nr.1 klar, Sir! Schmutzwäsche wird vorbereitet und liegt in spätestens drei Stunden zur Abholung durch ihren Fahrer bereit. Was Teil 2 des Auftrags angeht, so würde ich Sie bitten, mich davon zu entbinden und den Vogelfänger selbst zu kontaktieren. Ich habe nämlich starke Bedenken, was die Vorgehensweise des Beauftragten angeht". Es vergingen einige Sekunden, dann erschien von Makk1 prompt eine Antwort im Chatfenster: "Junger Mann, ich diskutiere mit Ihnen nicht! Ich befehle! Und Sie führen aus! Bedingungslos! Verstanden?! Oder soll ich Ihnen etwa einen amtlichen Hausbesuch verschaffen? I.O.U!". Die Hände des Jünglings begannen beim Lesen der Zeilen zu zittern und auf seiner Stirn bildeten sich viel kleine Schweißperlen. Erst jetzt, da sich der junge Mann in seinem Bürosessel zu Lukas hin umdrehte, erkannte dieser, wer da vor ihm saß. Es war sein Schützling und Freund Tim Hackerman, den er vor einigen Jahren nach Verbüßung einer Jugendstrafe wegen Computerkriminalität ins Personalarchiv des Yard geholt hatte und der ihm dann auch beim Aufspüren von Yelenas Adresse behilflich gewesen war. Lukas war irritiert. Was tat Timmy hier in diesem dunklen Loch, und warum machte ihn das unverständliche Geschreibsel auf dem Bildschirm nur so nervös?

Vater Joseph wußte die Antworten auf die nicht unausgesprochenen Fragen seines Filius: "Tja, mein Sohn! Auch was Timmy angeht, warst Du ganz einfach und simpel nicht da, als es darum ging, ihn nach seinem jugendlichen Ausrutscher und der Verbüßung seiner diesbezüglichen Strafe wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Stattdessen fingen ihn bei seiner Entlassung die Handlanger unseres Schattenmannes mit offenen Armen auf und gaben ihm, was er suchte: einen Job, ein Dach überm Kopf und einen Familienersatz. Sie ließen ihn bei sich unterschlüpfen und nutzten sein computertechnisches Genie einmal mehr für ihre dunklen Geschäfte. Eines dieser Geschäfte wurde gerade vor Deinen Augen abgewickelt. Bei den 12 Posten Schmutzwäsche handelt es sich nämlich um eine codierte Formulierung für die stolze Summe von 12 Millionen Pfund Schwarzgeld. Firma D.C. bezeichnet dabei Derrik Crawler als denjenigen, der das Geld waschen soll, während die vermeintliche Auftragsnummer die Kontonummer eines Schweizer Bankkontos darstellt, was auch der im selben Atemzug genannte Name der Schweizer Hauptstadt CH Bern noch einmal zusätzlich unterstreicht. Timmy hat nun den Auftrag, eine Transaktion in genannter Höhe von jenem Nummernkonto auf sein persönliches Privatkonto in London zu tätigen und das Geld anschließend von dort abzuholen. Sollte etwas schiefgehen, dann geht nur der arme kleine Tim der Polizei ins Netz, während sein Auftraggeber völlig unbehelligt bleibt".

Lukas verstand, und doch bereitete ihm noch etwas an der Sache Kopfzerbrechen: "Und was hat es mit dem anderen Auftrag auf sich, vor dessen Ausführung sich Timmy so sehr zu fürchten scheint?". Joseph Svensson trat ganz dicht an seinen Filius heran und erklärte: "Das ist eine noch viel schlimmere Sache. Der genannte Herr G.O. van Ni ist ein Profikiller, der bereits diverse Mordaufträge für den Schattenmann erledigt hat. Diesmal geht es um eine Dame aus Crawlers Umfeld, die durch Zufall von der Verbindung des Yardchefs zu jenem Mafiaboß weiß - ja mehr noch, sie kennt sogar dessen wahre Identität. Das macht sie natürlich für beide Herren zu einem ständigen Sicherheitsrisiko. Und so trachtet man ihr von beiden Seiten schon seit geraumer Zeit nach dem Leben. Zum Glück konnte sie bisher untertauchen, aber nun haben Crawlers Leute sie scheinbar doch ausfindig gemacht und den Mann im Hintergrund durch eine von Chauffeur George weitergegebene Notiz über ihren möglichen Aufenthaltsort in Kenntnis gesetzt, die dieser wiederum über Timmy an seinen Auftragskiller weiterzugeben versucht. Timmy aber ist schlau genug, um zu verstehen, daß er damit zum Mitwisser und gleichsam zum Mittäter eines kaltblütigen Mordes wird. Und das ist schon etwas anderes als seine bisherigen kleinkriminellen Computerhackereien, oder?!". Tim selber war inzwischen von seinem Drehstuhl aufgestanden und lief nervös in dem dunklen Zimmer auf und ab. Dabei murmelte er: "Verdammt! Was mach ich nur! Ich kann doch keine unschuldige Person an einen skrupellosen Killer ausliefern. Wenn ich das tue, dann hab ich ein Menschenleben auf dem Gewissen. Und tu ich es nicht, dann ist mein eigenes Leben keinen Penny mehr wert. Verdammter Mist! Warum mußte ich mich auch mit diesem Schwerverbrecher und seiner Organisation einlassen! Hätte ich mir nach dem Knast doch nur einen vernüntigen Job gesucht und wäre nach Hause zu meinen Eltern zurückgegangen. Aber nein, ich war ja zu stolz und hatte außerdem noch Schiß, mein Dad würde mich wegschicken, weil ich meinen Eltern mit meinen kriminellen Computerspielereien Schande bereitet hab. Ach Dad, wenn Du doch jetzt hier wärst! Sicher wüßtest Du einen Rat für meine aussichtslose Lage! Schließlich hattest Du schon früher immer für jedes Problem die passende Lösung parat!".

Maria Svensson trat in diesem Moment an ihre Männer heran und flüsterte, ihrem Gatten geheimnisvoll zuzwinkernd: "Ich glaube, dem verzweifelten Timmy kann geholfen werden, oder?!". Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, da klingelte es auch schon an der Wohnungstür. Tim blieb starr vor Schreck stehen und griff sich mit der rechten Hand an die inzwischen klatschnasse Stirn: "Oh je, das ist bestimmt schon die Polizei, also jener amtliche Besuch, den mir der Boß angekündigt hat! Oder schlimmer noch: Vielleicht ist es auch der Vogelfänger, der nun dem anderen kleinen abtrünnigen Vögelchen aus dem Hause Hackerman die Flügel stutzen und den Hals umdrehen soll! Egal, ich hab ja eh keine Möglichkeit mehr zu fliehen!". Mit diesen Worten schlich Timmy langsam mit hängendem Kopf und versteinerter Mine zur Wohnungstür. Er kniff die Augen fest zusammen, während er sie öffnete - im Geiste jede Sekunde das Klicken von Handschellen oder das des Abzughahns einer schallgedämpften Pistole erwartend. Doch keines von beidem war der Fall. Stattdessen fiel ihm jemand laut schluchzend um den Hals. Vorsichtig öffnete Tim Hackerman beide Augen wieder und schaute seinem Gegenüber tief ins tränenüberströmte Gesicht, wobei er sofort ganz aufgeregt rief: "Dad, mein Gott, Dad! Wie konmmst Du denn hierher? Wie hast Du mich überhaupt gefunden?". Der ältere Herr im schwarzen Mantel wischte sich kurz mit dem Ärmelstoff übers Gesicht und berichtete: "Vor zwei Stunden erhielt ich eine SMS von Unbekannt auf meinem Handy. Darin stand, mein Sohn sei unter dieser Adresse hier zu finden und brauche dringend meine Hilfe. Und da bin ich, ohne lang zu überlegen, einfach losgerannt!".

Tim sah seinem Vater noch einmal tief in die Augen, dann senkte er bedrückt sein Haupt: "Ach, Dad! Du hättest nicht kommen sollen! Du weißt ja gar nicht, was ich inzwischen seit meinem übereilten Fortlaufen von Zuhause alles auf dem Kerbholz hab. Erst hab ich mit meinen bescheuerten Computerhacks einige Tausend Pfund unterschlagen, dann - nach Verbüßen meiner Strafe - unter einem Vorwand als Telefonfritze verkleidet das Büro des Chefs von Scotland Yard verwanzt, mehrfach einem kaltblütigen Gangster bei der Geldwäsche geholfen und nun in seinem Auftrag fast sogar noch einen Mörder angeheuert. Sicher wirst Du Dich jetzt, da Du all das weißt, enttäuscht von mir abwenden. Wer braucht schon so einen verkommenen Kriminellen zum Sohn?! Und ich könnte das nur allzugut verstehen!". Einige Sekunden standen sich Vater und Sohn sprachlos gegenüber. Dann aber schloß Mister Hackerman seinen Jungen erneut fest in die Arme und schüttelte dabei nur wild den Kopf hin und her: "Ach, Timmy! Was denkst Du denn von Deinem alten Herrn?! Ich bin doch Dein Vater, und ich liebe Dich! Egal, wie falsch das auch immer gewesen sein mag, was Du getan hast, ich würde mein Kind nie im Leben verstoßen oder mich gar von Dir abwenden! Wichtig ist einzig und allein, daß Du jetzt Deine Fehler erkennst und dazu stehst. Und was dann auf Dich zukommt, das stehen wir Zwei gemeinsam durch! Ich bin für Dich da, mein Sohn, egal was geschieht!". Nun war es Timmy, dem die Tränen aus den Augen übers ganze Gesicht strömten. Sichtlich gerührt sagte er: "Ich lieb Dich auch, Dad! Und ich bin so froh, daß Du jetzt hier bei mir bist! Ja, mit Dir an meiner Seite schaff ich es ganz sicher, mich von diesen Verbrechern loszusagen! Komm, laß uns auf der Stelle zur Polizei gehen! Ich will eine Aussage machen!" Und damit nahm Timmy entschlossen seine Lederjacke von der Flurgarderobe und verließ mit seinem Vater die Wohnung.

Lukas Svensson aber blieb mit seinen Eltern in der abgedunkelten Wohnung zurück. Und als er fragend zu seinem Vater herüberschaute, meinte dieser: "Nun ja, der verlorene Sohn kehrt heim. Tim wohnt schon bald wieder in seinem Elternhaus. Er und sein Vater haben Glück. Sie geraten bei Tims Aussage nämlich an Inspektor Powerich, und der ist einer der wenigen höheren Polizeibeamten in London, die unser Schattenmann nicht auf seiner Gehaltsliste hat. Mit seinen Insiderinformationen über die Geheimkonten und damit verbundenen Machenschaften des Mafiabosses bringt Timmy schließlich einen Stein ins Rollen, der sich rasch zur Lawine ausbreitet. Allerdings wird es nicht leicht, den mächtigen Mann mit all seinen weitreichenden einflußreichen Kontakten dingfest zu machen. Dazu bedarf es dann sowohl weiterer Zeugen als auch einer großen List. Aber mehr wird an dieser Stelle noch nicht verraten! Nur soviel vielleicht noch: Ja, ich hab ein Handy einstecken, auf dem auch die Nummer von Hackerman senior eingespeichert ist. Und ja, auf diesem Handy wird die Anzeige der Rufnummer unterdrückt ... So, und nun aber husch, husch und ab durchs nächste Türchen!". Und während Mutter Maria einen blauen Textmarker vom Computertisch holte und damit eine große 18 in die obere Hälfte der Wohnungstürinnenseite zeichnete, begann der Türrahmen bereits in gewohnter Helligkeit zu erstrahlen. Lukas Svensson aber warf sich mit seinen Eltern dem immer greller werdenden Licht entgegen in gespannter Erwartung der nächsten Zeitreisestation ...

Türchen No. 18: Die Schöne und das Ekel - BITTE ANKLICKEN!

Im luxuriösen Ambiente eines geschmackvoll eingerichteten Büros endete diesmal die lichtumflutete Tunnelreise der Svenssonfamilie. Lukas begann sofort, das ihn und seine beiden Erzeuger umgebende Terrain genauer zu erkunden. Die Wände des dezent beleuchteten Raumes trugen eine schicke lackierte Holztafelverkleidung. In ihr waren hin und wieder ein wenig versetzt kleine Nischen angebracht, in denen zur stilvollen Dekoration hübsche Blumengestecke oder Weinflaschen mit recht edlen Tropfen standen. So sehr Lukas seinen Geist auch bemühte, er konnte sich einfach nicht erklären, wo er hier gelandet war und vor allem, welchem Zweck diese Zwischenstation der Zeitreise dienen sollte.

In diesem Augenblick öffnete sich die ebenfalls holzverkleidete Bürotür, und eine bezaubernde, junge Frau in einem aufregenden pinken Top und einem - ihre langen Beine voll zur Geltung bringenden - schwarzen Minirock betrat das Büro. Ihr strahlendes Lächeln erkannte Lukas dabei sofort wieder. Es handelte sich um das bereits seinerzeit als Sekretärin im Yard angestellte Fräulein Sabrina Meltstone, welches ihm einst eine große Hilfe gewesen war, als er wieder einmal nicht genau wußte, wie er eine auf seinem elektronischen Organiser befindliche Nachricht abrufen sollte. Am Tag seines Ausscheidens aus dem aktiven Polizeidienst war er ihr zum letzten Mal begegnet, wo sie ihm als kleines Dankeschön zusammen mit den anderen Sekretärinnen Blumen überreicht hatte.

Während der Ex-Inspektor noch in seinen Erinnerungen schwelgte, hatte sich Sabrina schon zu ihrem Schreibtisch begeben, auf dem dahinterstehenden Drehsessel Platz genommen und ihre Beine langsam übereinander geschlagen. Ein erregendes Schauspiel, welches Lukas sofort an Sharon Stones bekannte Darbietung bei der polizeilichen Vernehmung in "Basic Instinct" erinnerte, nur das er es - im Gegensatz zu Michael Douglas im Film - hier schon allein aufgrund der Anwesenheit seiner Mutter tunlichst vermied, der jungen Frau dabei allzu genau unter den etwas aufwärts gleitenden Rock zu schauen. Im Gegenteil: Ganz gentlemanlike bewegte er den Kopf dezent nach oben bis auf Höhe ihrer rechten Brust, wo sein Blick einige Sekunden recht interessiert verweilte. Doch auch hier ging es ihm keineswegs vorrangig um die hervorstechenden weiblichen Reize von Miss Meltstone, sondern vielmehr um das kleine angesteckte Namensschild, welches sie dort trug. Lukas trat ein paar Schritte näher an den Schreibtisch heran und konnte nun auch endlich den Schriftzug darauf erkennen: "S. Meltstone - Chefsekretärin Scotland Yard". Sie also war Derrik Crawlers neue Vorzimmerdame und hatte damit scheinbar den ehemaligen Posten von Claudia Palmer übernommen, weshalb auch immer.

Das schick ausgestaltete Zimmer, in dem die Svenssons hier weilten, mußte dann wohl das Vorzimmer von Chiefsuperintendent Crawler im Yard sein, welches nach all den Umbauten im 20.Stock ebenso wenig wiederzuerkennen war wie das Chefbüro selbst. Auch hier verströmte jeder einzelne Quadratzentimeter einen Hauch von Extravaganz und verschwenderischem Luxus. Vermutlich war Crawlers Wahl bei der First Lady in seinem Office daher auch auf Sabrina gefallen, deren atemberaubendes Erscheinungsbild diesen Eindruck am ehesten zu unterstützen vermochte. Ein Knacken in der Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch riß Lukas aus seinen Überlegungen heraus. Sekundenbruchteile später ertönte aus eben diesem Gerät vom Büro nebenan her die Stimme ihres Herrn und Meisters: "Sabrina, hören Sie, ich möchte in den nächsten zwei Stunden nicht gestört werden! Sagen Sie einfach, ich wäre in einer wichtigen Besprechung! Und geben Sie meinem Fahrer George Bescheid, daß es heute nach Feierabend noch einen Auftrag für ihn gibt!". Wieder war ein knackendes Geräusch in der Anlage zu vernehmen, dann kehrte Stille ein.

Sabrina Meltstone seufzte. Die kurzen und knappen Anweisungen des Herrn Crawler waren ihr längst vertraut, auch daß er nie eine Bestätigung dafür wünschte, daß man sie verstanden hatte - ebenso wenig, wie er einem selbst Bestätigung oder gar Anerkennung zuteil werden ließ, wie sehr man sich auch darum bemühte. Er war ein unnahbarer und zum Teil auch schnell aufbrausender Chef, und dennoch erzeugte seine äußere Gefühlskälte irgendwie auch ihr Mitleid. Ein inneres Gefühl, das man wohl am ehesten als weibliche Intuition umschreiben konnte, sagte ihr einfach, daß Crawler irgendjemand im Nacken saß und einen mächtigen Druck auf ihn ausübte. Anfangs hatte sie noch vermutet, es sei einfach die gewaltige Verantwortung, die seine neue Aufgabe im Yard mit sich brachte. Aber je tiefer sie durch ihren Posten Einblick in sein Wesen und seine Handlungsweisen erhielt, desto mehr fiel ihr auf, wie nervös und gehetzt er manchmal wirkte - so als sei der Teufel persönlich hinter ihm und seiner Seele her.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ die junge, gedankenversunkene Chefsekretärin kurz zusammenzucken. Sabrina fing sich jedoch sofort wieder, richtete rasch ihre Kleidung und rief dann freundlich: "Herein!". Die Tür wurde aufgerissen, und ein älterer, vollschlanker Mann mit Halbglatze betrat das Büro. Er machte ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu und legte seinen rechten Ellenbogen lässig auf der mit Papieren reich bedeckten Schreibtischplatte ab, während er sich gleichzeitig zu Sabrina hinüberbeugte. Einen Kaugummi in seinem Mund verschwinden lassend raunte er: "Ich bin Inspektor John Wayne Powerich, vielleicht erinnern Sie sich ja noch an mich?! Ich war schon vor ein paar Tagen hier und muß jetzt dringend ihren Chef sprechen! Äh, wollen Sie auch einen!". Und damit beförderte er einen zweiten Streifen Kaugummi aus der Brusttasche seines ockerfarbenen Flanellhemds und hielt ihn der Vorzimmerdame direkt unter die Nase.

Sabrina schüttelte den Kopf: "Nein, danke!". Und während der Inspektor den Kaugummi wieder in Brustnähe verstaute, ergänzte sie: "Was nun Ihren Wunsch angeht, bedaure ich sehr, aber Chiefsuperintendent Crawler befindet sich momentan in einer wichtigen Besprechung und hat mich ausdrücklich instruiert, niemanden zu ihm vorzulassen! Vielleicht darf ich ihm ja etwas ausrichten!". Powerich legte seine kahle Stirn in Falten und erwiderte dann: "Ja, Kindchen, das können Sie! Und zwar, daß ich so langsam genug habe von seinen ewigen Abwimmeleien. Und mal unter uns zwei Hobbyanglern gesprochen: Ich denke nämlich, daß ich gerade einen ziemlich dicken Fisch am Haken habe. Anfangs war ja da nur dieser vage Verdacht, der Sprengstoffanschlag auf Unterweltgröße Spirelli und das tödliche Attentat auf Premierminster Wannabe und seine Frau trügen die selbe Handschrift. Dann bohrte ich ein wenig tiefer und stieß dabei auf die weitverzweigten Machenschaften eines Schwerkriminellen, der anscheinend im Dunkeln agiert und dessen Kontakte bis in die höchsten Ebenen des gesellschaftlichen Lebens in London und Umgebung zu reichen scheinen. Und gestern kam dann ein berüchtigter Computerhacker mit einer aufschlußreichen Aussage zu mir. Der behauptet nämlich, für den großen Mann im Dunkeln gearbeitet zu haben, und gab mir als Beleg dafür die Nummern diverser Schweizer und Luxemburger Bankkonten. Die Buchungen, die von dort aus hier nach England getätigt wurden und scheinbar ausschließlich der Geldwäsche, der Bezahlung eines Auftragskillers und der Bestechung dienten, lassen sich zu verschiedenen hohen Politikern und hochrangigen Staatsbeamten weiterverfolgen. Und die Aussage eines weiteren Zeugen führt sogar direkt hier ins Yard. Über all das hätte ich gern mit ihrem Chef geredet, aber der weilt ja wieder einmal in einer ach so wichtigen Besprechung. Und darum werde ich seine und Ihre kostbare Zeit auch jetzt gar nicht länger in Anspruch nehmen und wende mich mit all meinen Indizien und Beweisstücken einfach direkt an Interpol. Groß genug dafür ist die Angelegenheit auf alle Fälle".

Mit diesen Worten machte Powerich auf dem Hacken seiner Cowboystiefel kehrt, rückte im Gehen noch einmal seine Jeanshose an der silbernen Gürtelschnalle zurecht und führte die Fingerspitzen seiner rechten Hand zum Gruß an die nicht vorhandene Hutkrempe: "Ich muß dann mal wieder! War interesant, mit Ihnen zu plaudern! So long, Mam! Übrigens: Zwei hübsche kleine Knöpfchen, die Ihr kleines Oberteil da verzieren!". Und mit einem letzten verschmitzen Augenzwinkern schloß er die Bürotür hinter sich und entschwand in den Sonnenuntergang. Sabrina aber schaute ein wenig verdutzt an sich hinunter. Welche zwei Knöpfe hatte er nur gemeint? Ihr einfaches Top hatte doch gar keine derartigen Verzierungen. Und einen BH trug sie darunter auch nicht, wie man bei genauerem Hinschauen wohl zu erkennen vermochte, so markant wie ihre Brustwarzen den Stoff auswölbten. In diesem Augenblick verstand sie die Andeutung Powerichs, und ihr strahlendes Gesicht errötete leicht.

Dabei mußte Sabrina sofort an einen jungen Mann von der Telefongesellschaft "I.O.United" denken, der eigentlich mit einer schlichten Bemerkung der Auslöser dafür war, daß sie in letzter Zeit teilweise auf die Verhüllung ihrer reizvollen weiblichen Konturen verzichtete. Jener Timmy, der vor einigen Wochen unangemeldet im Büro ihres Chefs eine defekte Leitung reparieren wollte, hatte nämlich zum Abschied zu ihr gesagt: "Fräulein Sabrina, Sie brauchen doch nun wirklich nicht mit Ihren Reizen zu geizen! Eine von Natur aus so reich beschenkte, bezaubernde, junge Frau hat das echt nicht nötig!". Seitdem hatte sie sich Morgen für Morgen besonders adrett zurecht gemacht und dabei ihre geliebten Spitzen-BH's der finnischen Nobelmarke "Musta Kissa" einfach weggelassen, in der leisen Hoffnung, daß bald einmal wieder einer der Telefonanschlüsse streiken würde.

Lukas Svensson war unterdess immer noch sichtlich beeindruckt vom Abgang seines Kollegen Powerich: "Dieser Inspektor gefällt mir! Der hat einen exellenten Riecher, jede Menge Biß und vor allem scheinbar keine Angst vor großen Tieren. Guter Mann!". Mutter Maria nickte: "Ja, mein Junge, ein wenig erinnert er mich an Dich!". Und Vater Joseph ergänzte, seinen Blick für eine Sekunde von Sabrinas leicht bekleideter Top-Figur lösend: "Mir gefällt er auch, nach allem, was ich so gesehen habe!". Seine Frau Maria aber kniff ihm im selben Moment leicht in den Oberarm, worauf ihr Göttergatte ganz verblüfft mit einem leisen "Autsch!" reagierte. Dann meinte sie augenzwinkernd: "Ja, das glaub ich gern, daß Dir gefällt, was Du so gesehen hast! Schließlich starrst Du schon über eine Minute wie gebannt auf Sabrinas kaum verhülltes, hervorstechendes Top-Secret! Na warte nur ab, wenn wir erstmal wieder in unserem himmlischen Zuhause angekommen sind!". Und schmunzelnd drohte sie ihm zur Bekräftigung mit dem nach oben gerichteten, rechten Zeigefinger. Joseph Svensson aber verzog seine Lippen zu einem süßen, unschuldigen Schmollmund, mit dem er seiner Maria sogleich ein zartes, um Vergebung bittendes Küßchen auf die linke Wange preßte. Nun errötete auch Maria leicht und flüsterte: "Aber, Jo! Doch nicht vor dem Jungen! Und nur keine Angst! Du weißt doch, daß ich Dir altem Lüstling eh nie lang böse sein kann!".

Lukas' Blick wanderte von seinen turtelnden Eltern zurück zu Sabrina. Die saß noch immer mit verklärtem Blick verzückt lächelnd da - in Gedanken an den süßen, kleinen Strippenzieher Timmy, der mit seinem Humor und seinem Charme sofort ihr Herz erobert hatte. Im nächsten Moment klingelte das Telefon. Die junge Sekretärin nahm den Hörer ab und sagte freundlich ihren üblichen Begrüßungsspruch auf: "New Scotland Yard. Vorzimmer Chiefinspektor Crawler, Sabrina Meltstone am Apparat. Was kann ich für Sie tun?". Eine Sekunde war alles ruhig, dann krächzte am anderen Ende die Stimme eines alten Mannes: "Ich wüßte da schon etwas, mein Mädchen! Aber das flüster ich Dir lieber persönlich in Dein süßes Öhrchen, vielleicht bei einem Candellightdinner auf meiner Yacht heute abend um acht?! Mein Fahrer könnte Dich ganz diskret bei Deinem Chef loseisen, und wir könnten bei Erdbeeren und Champagner ein wenig über Deine hervorstechenden weiblichen Vorzüge plaudern! Sollte Dein Schaden nicht sein! Was das Belohnen kleiner Gefallen angeht, bin ich nämlich keineswegs knausrig. Da kannst Du gern mal Deinen Boß fragen! Also, wie wärs?!". Sabrinas bezauberndes Lächeln war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht verschwunden. Eingeschüchtert von jenem aufdringlichen Herrn, dessen Stimme sie nur allzu gut kannte und der ihr am Telefon schon mehrfach so obzöne Angebote gemacht hatte, stammelte sie - sichtlich um das Bewahren ihrer Fassung bemüht: "Ja, also danke für das Angebot, Sir! Aber ich hab hier noch jede Menge Arbeit vor mir liegen und glaube nicht, daß ich heute vor Mitternacht damit fertig sein werde. Und reichlich müde bin ich auch!". Der Tonfall des Anrufers wurde augenblicklich ruppiger: "Jetzt hör mal gut zu, junge Dame! Erstens hab ich Dir schon tausendmal gesagt, Du sollst mich nicht Sir, sondern endlich Vince nennen, wie es alle meine Häschen tun! Und zum anderen akzeptiere ich beim dritten Anruf kein Nein mehr! Sonst müßte ich nämlich mal ein ziemlich ernstes Wörtchen mit meinem Freund Derrik reden, zu dem Du mich jetzt eh durchstellen wirst! Und wenn mein Gespräch mit ihm beendet ist, erwarte ich Deine zustimmende Antwort! Damit das klar ist, undankbares Ding!".

Sabrina zögerte keine Sekunde, den Anruf zu ihrem Chef durchzustellen. Hatte sie doch inzwischen längst gelernt, daß dieser gräßliche Mann - der nie seinen Nachnamen nannte - der einzige war, für den Chiefsuperintendent Crawler immer zu sprechen war, wenn auch nicht gern. Derrik Crawler meldete sich auf Sabrinas Anklingeln ein wenig aufgebracht: "Was gibt es denn? Hatte ich nicht deutlich genug gesagt, ich wolle nicht gestört werden?!". Sabrina geriet ein wenig ins Stottern: "Ja, schon, Sir! Aber es ist Ihr Bekannter Vince, den ich hier am Telefon hab. Und Sie sagten doch beim letzten Mal ...". Am anderen Ende der Leitung wurde es ein paar Sekunden totenstill, dann meldete sich leise, fast ängstlich die Stimme Crawlers zurück: "Ja, wenn das so ist, dann stellen Sie ihn nur rasch durch. Und Sie machen dann Feierabend, Sabrina!". Sabrina wäre dem nur zu gern nachgekommen, aber sie wußte auch, daß die Anweisungen jenes krächzenden Anrufers meist verbindlicher galten als die ihres eigentlichen Chefs, und daher fragte sie nach: "Sir, aber Ihr Bekannter Vince wollte anscheinend nach Ihrem Telefonat noch etwas mit mir bereden. Soll ich trotzdem schon nach Hause gehen?". Crawlers Antwort kam prompt und mit einem leisen Seufzer: "Ja, dann hab ich allerdings keine Wahl und muß ich Sie natürlich bitten, noch zu bleiben! Verbinden Sie mich jetzt und legen Sie dann auf!". Sabrina befolgte den ersten Teil der Anweisung und ignorierte gleichzeitig aus Neugierde, was es mit dem scheinbar so mächtigen Mann wohl auf sich habe, deren zweiten Teil.

So konnte sie an ihrem Apparat das Gespräch der beiden Männer als stiller Teilnehmer mitverfolgen. Crawler begrüßte zunächst seinen Gesprächspartner untertänig mit den Worten: "Guten Abend, IOU! Wie lauten Ihre Anweisungen?", worauf der krächzende Mann zufrieden erwiderte: "Sehr schön, Du Wurm! Ich sehe, wir verstehen uns! Also zum einen steht meine letzte Kontobewegung aus der Schweiz noch aus, weshalb ich unseren gemeinsamen Freund G.O. van Ni gern mal um einen Hausbesuch bei Herrn Hackerman bitten würde. Zum zweiten verschiebt sich dementsprechend unser Austausch über Ihren Fahrer um exakt 24 Stunden. Sie können dem Kerl also getrost freigeben für heute. Man ist ja schließlich kein Unmensch, zumal der liebe George so eine entzückende kleine Familie hat, die ihn ganz sicher davon abhalten dürfte, mit seinem Wissen allzu übermütig zu werden. Ja, und als letztes werden Sie Ihrer süßen Schreibmaus heute abend, großzügig wie Sie sind, frei geben, damit sie die Nacht mit mir verbringen kann. Mein Fahrer holt sie in einer Stunde in einer Seitengasse ab. Und Sie drücken dann auch ein Auge zu, wenn sie morgen ein wenig später und auch müder als üblich im Büro erscheint! Sie verstehen schon, was ich damit meine ...". Ein lauter Knall unterbrach die Ausführungen des Krächzenden, der schon eine Sekunde später ins Telefon brüllte: "Was war das, Sie Idiot? Hört da etwa jemand mit? Sie haben mir doch versichert, daß Sie eine abhörsichere Leitung haben! Ich schwöre Ihnen: Wenn von unserer kleinen Plauderei auch nur ein Wort nach draußen dringt, dann bekommen auch sie umgehend Besuch von unserem gemeinsamen Freund!".

Am ganzen Leib zitternd begab sich Derrik Crawler, einer bösen Ahnung folgend, schnellen Schrittes ins Vorzimmer, wo er den Drehstuhl hinterm Schreibtisch langsam kreisend und leer antraf. Sabrina war, wie er es schon befürchtet hatte, verschwunden. Ja, sie hatte alles mit angehört und dabei nur allzu gut verstanden, was jener Vince am Telefon mit seiner Bemerkung über die gemeinsame Nacht und ihr bevorstehendes verspätetes Erscheinen meinte. Dieser verdammte alte Bock, der ihn und seine Existenz fest in der Hand hatte, wollte mal wieder eine unschuldige Blume pflücken, um sie in seinen dreckigen, faltigen Krallen zu zermalmen und dann achtlos wegzuwerfen. Crawler ahnte sofort, daß ihm das Verschwinden Sabrinas nicht gut bekommen würde, war er doch auch schon nach dem letzten Vorfall dieser Art nur haarscharf an der Heimsuchung durch die berüchtigte dreiköpfige Schlägertruppe seines Erpressers vorbeigeschlittert. So nahm er all seinen verzweifelten Mut zusammen, begab sich auf wackligen Beinen zurück in sein Büro und vermeldete seinem wartenden Gesprächspartner: "Sir! Es war nichts. Es ist nur eine Akte aus dem Schrank gefallen! Und was die Anwesenheit von Fräulein Meltstone bei Ihnen angeht, ließe sich das eventuell um einige Abende verschieben?! Es ist tatsächlich noch einiges an Arbeiten im Büro zu erledigen, vor allem das Beseitigen eventueller Spuren, die diverse Fälle der letzten Zeit mit Ihnen ... äh, ich meine mit uns ... in Verbindung bringen könnten. Ich hab da nämlich einen etwas übereifrigen Mitarbeiter, der seine Nase in alles hereinsteckt". Der Mann am anderen Ende überlegte scheinbar einen Moment angestrengt, dann antwortete er: "Also gut! Wenn es denn sein muß, dann verschieb ich mein Stelldichein mit Ihrer büstenhalterlosen Perle um ein paar Tage. Aber dafür erwarte ich dann auch Full Service mit allen Extras und ohne Zicken von ihr! Sagen Sie ihr das! Und wenn Sie wollen, dann können Sie sie ja zwischendurch schon mal auf Betriebstemperatur vorwärmen! Ach nein, ich vergaß: Sie lieben ja mehr den Knall mit der ledernen Peitsche. Nun ja, jedem das Seine! Und falls es Ärger gibt mit ihrem internen Quertreiber, sagen Sie gefälligst Bescheid! Ich kümmer mich dann darum! Guten Abend! Und immer schön dran denken: I.O.U!". Damit wurde das Telefonat vonseiten des Anrufenden abrupt beendet, und Crawler sank erschöpft in seinen Chefsessel zurück, während sich seine Lebenserwartung vor seinem geistigen Auge sprungartig verringerte.

Joseph und Maria aber hakten ihren Sohnemann kurzentschlossen unter und gingen mit ihm bedächtigen Schrittes ohne ein weiteres Wort auf jene Bürotür zu, durch die kurz zuvor Sabrina entwichen war, und die jetzt in ein rötliches Licht abtauchte, in welchem auch die Svenssons einmal mehr in die Ferne der näheren Zukunft entschwebten ...

Türchen No. 19: Eine Frau wird gejagt - BITTE ANKLICKEN!

Nachdem Lukas und seine Eltern ihre letzten Besuche im Warmen abstatten durften, fanden sie sich nun einmal mehr im Freien wieder. Und der Ex-Inspektor bemerkte sofort, daß es im Vergleich zu ihrem letzten Außentermin noch einmal merklich kälter geworden war. Selbst in seinem fest geschlossenen Mantel wurde es ihm jetzt schon ein wenig unbehaglich. Um ihn herum schien es langsam hell zun werden, wobei es zu dieser Jahreszeit dann wohl etwa 8 oder 9 Uhr morgens sein dufte. Ein paar ganz mutige Piepmätze zwitscherten in den blätterlosen Ästen der umstehenden Bäume, ihre Köpfe soweit wie möglich ins dichte Federkleid hineingepreßt. Auf dem Gras der Rasenfläche, auf welcher die drei Svenssons standen, hatte sich über Nacht eine hauchdünne Frostschicht gebildet, der die schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne noch nichts wirklich Auftauendes entgegenzusetzen vermochten. Wo das überfrorene Grün des Rasens endete, erhob sich vor ihnen schließlich ein kleines Landhaus, dessen Dachschindeln überall Moos bedeckte, so daß es ebenfall grünlich vor sich her schimmerte.

Dem ersten Eindruck nach schien es sich hier um ein Gartengrundstück zu handeln, wie man es vielfach in den Vororten Londons antraf, wo wohlbetuchte Hauptstädter sich an den Sommerwochenenden gern eine Auszeit vom hektischen Treiben der Arbeitswoche gönnten. Lukas begann es zu dämmern, wen sie hier antreffen würden - jetzt, da er sich an eine Bemerkung aus dem mysteriösen Chat seines Schützlings Timmy mit dem Mafiaboß erinnerte: "Außerdem können sie Herrn G.O. van Ni Bescheid geben, daß ein kleines Singvögelchen aus dem Hause von Familie Palmer entflogen ist. Würde mich freuen, wenn er es einfangen und ihm die Flügel ein wenig stutzen könnte. Vermutlich flattert es auf einem Gartengrundstück in Brockenhurst herum". Ein Singvögelchen aus dem Hause Palmer - dabei handelte es sich dann wohl um eine dezente Umschreibung der ehemaligen Chefsekretärin von Scotland Yard Claudia Palmer, quasi der Vorgängerin der soeben dem Zugriff des widerlichen Schattenmannes panisch entflohenen Sabrina Meltstone. Auf eine Bestätigung seines leisen Verdachts aus, schaute Lukas zu seiner Mutter hinüber, welche sich schon zur Hintertür des Landhäuschens begeben hatte, wo sie an einem dort aufgehängten Zimtstern schnupperte. Die Gedanken ihres Söhnchens erkennend, wandte sie sich zu ihm um und sagte: "Ja, Lukas, mein Schatz. Du hast recht! Wir sind hier tatsächlich im Unterschlupf von Fräulein Palmer zu Gast. Wie ihre Nachfolgerin war nämlich auch sie zuvor den Anzüglichkeiten des lüsternen Greises ausgeliefert, dessen Identität Dir noch immer nicht bekannt ist und der halb London auf verschiedenste Art und Weise in seinen schmierigen, erpresserischen Händen hält. Und auch sie hat sich seinem Zugriff letztlich nur durch Flucht zu entziehen gewußt, was sie nun zu einer Gejagten macht".

Vater Joseph deutete im selben Moment auf einen Holzschuppen hinter dem Haus, durch dessen recht kleine Tür gebückt eine junge Frau heraustrat, ein niedliches schwarzes Katzenjunges auf dem Arm. Die kurzhaarige Dame, in der Lukas binnen weniger Momente Freakadellys einstige Schreibkraft Claudia wiedererkannte, streichelte dem Kätzchen behutsam übers samtíge Fell und flüsterte ihm dabei ins Ohr: "Ach, Du kleiner süßer Stromer, Du. Bist auch von zuhause ausgebückst wie ich, was?! Hat man Dir auch schlimme Dinge antun wollen, so wie man sie mir getan hat. Armes kleines Ding, Du! Aber keine Sorge. Hier sind wir zwei Beiden ganz sicher vor all dem Bösen da draußen!". Joseph Svensson schüttelte traurig den Kopf: "Da irrt sich die Gute aber gewaltig. Dank Crawlers Ermittlungen und den entsprechenden Informationen an seinen skrupellosen Erpresser wurde vor wenigen Stunden ein Mordauftrag an den mehrfach erwähnten Profikiller mit dem Tarnnamen G.O. van Ni ausgegeben, der nun jederzeit hier auftauchen kann und das trügerische ländliche Idyll innerhalb weniger Sekunden in den blutigen Schauplatz eines brutalen Tötungsverbrechens zu verwandeln bereit ist. Arme kleine Claudia! Wenn jetzt nicht noch ein Wunder geschieht, dann ist sie schon so gut wie tot. Denn G.O. van Ni's bluttriefende Erfolgsquote liegt bei satten 100 Prozent".

Lukas Svensson war sichtlich entsetzt. Mit einer Träne im linken Auge schaute er zu der ahnungslosen jungen Frau hinüber, die in diesem Moment ihr Kätzchen behutsam auf dem Gras absetzte und ihm zärtlich zuhauchte: "Lauf, mein Kleines, lauf! Dein Fresschen wartet am Fußabtreter vor der Hintertür schon auf Dich!". Der Ex-Inspektor schüttelte traurig seinen Kopf hin und her: "Ach, liebe gute Claudia! Du solltest besser laufen, rennen um Dein Leben solltest Du! Weg von hier, weit weg! So weit die Füße tragen! Aber Du denkst ja in Deiner herrlich kindlichen Naivität, daß Dich hier niemand finden wird. Du glaubst, hier könne Dir nichts zustoßen! Wie gern wäre ich jetzt leibhaftig da, um Dich vor der drohenden Gefahr zu beschützen. Aber es ist ja nur mein Geist, der hier anwesend sein kann. Denn mich, den Ex-Polizisten Lukas Svensson gibt es hier ja gar nicht. Es hat ihn nie gegeben und wird ihn nie geben. Und darum sind mir die Hände gebunden. Ich bin nur ein hilfloser Zuschauer jener Tragödie, die sich hier zusammenzubrauen scheint. All das mit anzusehen, bricht mir förmlich das Herz. Dabei hab ich geglaubt, es wäre soviel leichter für alle, wenn es mich nicht gegeben hätte. Was für ein schrecklicher Irrtum!".

Mutter Maria eilte hinzu, um ihren vom Gefühl der Hilflosigkeit übermannten Sohn in ihre mütterlichen Arme einzuschließen. Und ihm tröstend mit der zarten Hand über den Rücken streichelnd flüsterte sie: "Ja, mein Sohn, ich hab es Dir ja schon am Anfang unserer Reise gesagt: Dad und ich sind Dir engelsgleich erschienen, um Dir die Augen für die Wahrheit zu öffnen - die göttliche Wahrheit über den Sinn Deines Lebens. Und wie ich sehe, hat unsere Reise diese Aufgabe schon jetzt voll und ganz erfüllt. Aber sag mal, wo sind eigentlich Claudia und Dein Vater geblieben?". Lukas erhob seinen Kopf aus Marias Umarmung und schaute ringsum. Tatsächlich, die Beiden waren verschwunden. Verwundert folgte er seiner Mutter durch die Hintertür ins behaglich warme Innere des Landhauses, wo man unmittelbar nach dem Eintreten aus einem der Zimmer eine laute Männerstimme vernahm, die brüllte: "Hab ich Sie endlich gefunden! Und jetzt Pfoten hoch, alle Beide, und ab an die Wand! Euer letztes Stündlein hat geschlagen, ihr verdammten Verräter!". Zwei Schüsse knallten, dann herrschte eine geradezu beängstigende Stille im Haus. Maria und Lukas hatten wie angewurzelt dagestanden und dem Geschehen gelauscht, aber jetzt rannten sie alle Beide zeitgleich los - hin zu dem Zimmer, aus dem die schrecklichen Geräusche gekommen waren und in dem in diesem Moment eine ganz leise Melodie ertönte.

Völlig außer Atem stürzten Mutter und Sohn durch die halboffene Zimmertür und landeten im Wohnzimmer des Häuschens. In der Mitte des Raumes befand sich eine große Couch und vor ihr auf einer kleinen Anrichte ein riesiger Flachbildfernseher, auf dessen Mattscheibe gerade der überdimensionale schwarzweiße Schriftzug "The End" aufflackerte. Links daneben aber standen - gebannt auf den Bildschirm starrend - Claudia und Joseph. Vater Svensson sah für eine Sekunde ein wenig entgeistert zu dem wild nach Luft japsenden Rest seiner Familie herüber. Dann wanderte sein Blick wieder zum TV Gerät, und er meinte begeistert: "Wahnsinn! Bildschirmgröße 127 Zentimeter. Bildschirmauflösung 1920 mal 1080 Pixel. Ein gestochen scharfes Bild dank modernster 100 Hertz Motion Plus Technologie. Satte 16 Bit Farbtiefe, was unglaublichen 280 Billionen Farben entspricht. Das ganze in Full HD, und als Krönung obendrauf ein absolut lebensechtes Klangerlebnis dank Trusurround HD und Dolby Digital Plus". Maria Svensson, die bei all den detailverliebten Spitzfindigkeiten ihres technikbegeisterten Gatten größtenteils nur Bahnhof verstanden hatte, nickte immer noch sichtlich geschockt: "Ja, von der Lebensechtheit des Klangs konnten Dein Sohn und ich uns gerade bestens überzeugen. Dein bescheuertes technisches Weltwunder hat uns mit seinem zuende gehenden Filmerlebnis gerade zu Tode erschreckt. Wir Beide dachten nämlich schon, der angeheuerte Profikiller sei angekommen und würde Claudia und Dir hier drin das Lebenslicht ausblasen".

Joseph Svensson mußte schmunzeln: "Aber, Mariechen! Erstens könnte der mich doch gar nicht sehen, und zweitens ist Dein Jo doch schon längst tot, wie Du Dich sicher erinnerst! Ach Käferchen, tut mir echt leid, daß Euch diese seelenlose Flimmerkiste so in Angst und Schrecken versetzt hat. Aber wo das flachmattscheibige Wunderding schon mal an ist und momentan aufgrund eines scheinbaren Senderausfalls auf all seinen vielen farbigen Bildpunkten eh nur Schneegestöber zeigt, wie wär es denn da mit einer kleinen Hommage an den Gruselklassiker 'Poltergeist' von Altmeister Spielberg. Wenn wir Svenssons vielleicht auch nicht in die Geschichte eingehen, dann doch wenigstens einmal in die mystische Welt der bewegten Fernsehbilder". Mit diesen Worten näherte er seine rechte Hand langsam der hellerleuchteten, krisselnden Mattscheibe. Dort begann sie unversehends, in jene megapixlige Schneelandschaft - welche am oberen linken Bildrand nur von der grünleuchtenden Fernsehkanalzahl 20 unterbrochen wurde - einzutauchen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte der Riesenbildschirm auch den Rest von Vater Svensson verschluckt. Und aus den eingebauten Surround Lautsprechern heraus drang sogleich seine Stimme gespenstisch verfremdet ans Ohr seiner Lieben: "Maria, Lukas! Kommt! Kommt zu mir ins Licht! Habt keine Angst! Ich warte hier auf Euch!". Die beiden Angesprochenen sahen sich ein wenig verdutzt an, dann faßten sie sich bei den Händen und folgten kurzentschlossen dem Aufruf ihres Familienoberhauptes aus der möglichen Gegenwart wieder zurück in die Zukunft ...

Türchen No. 20: Kein Mord aus Leidenschaft - BITTE ANKLICKEN!

Der "Fernsehauftritt" dauerte für die drei Svenssons nur wenige Sekunden, dann wurden sie wieder abgesetzt - und zwar direkt dort, wo sie hergekommen waren: Im Wohnzimmer jenes Landhauses, in dem sich Claudia Palmer auf der Flucht vor ihren Verfolgern verborgen hielt. Zeitlich gesehen waren hier seit ihrer Abreise allerdings mehr als 24 Stunden vergangen, in denen sich so einiges im Inneren des Raumes verändert zu haben schien. Lukas schaute sich ein wenig um, und entdeckte auf Anhieb eine ganze Reihe von Unterschieden. Das begann schon allein bei Claudias Äußerem. Hatte sie zuvor noch eine graue Anzugjacke getragen, so war sie jetzt nur noch mit einer strahlend weißen Bluse bekleidet, die die ohnehin wunderschöne junge Frau engelsgleich erscheinen ließ. Neben der Anrichte mit dem Flachbildfernseher hatte sie inzwischen einen kleinen Tannenbaum aufgestellt und ihn in Hülle und Fülle weihnachtlich mit Lametta, verschiedenfarbigen Weihnachtskugeln und einer langen, bunten Lichterkette geschmückt. An seiner Spitze aber wurde er von einem großen goldenen Stern gekrönt. Auf dem kleinen Couchtisch lag eine hübsches, rotes Weihnachtsdeckchen, auf dem ein siberner Blechteller stand - reich gefüllt mit selbstgebackener Plätzchen, die so verführerisch lecker dufteten, als seien sie eben erst dem heißen Ofenblech entsprungen. Daneben lag ein liebevoll gestalteter Adventskranz mit vier dicken, roten Wachskerzen darauf, von denen drei bereits angezündet waren und den Raum mit ihrem flackernden Licht beschienen. Im Fernsehen aber lief eine vorweihnachtliche Musiksendung und verbreitete so mit all den anderen Eindrücken eine festliche Stimmung im ganzen Haus.

Lukas allerdings stimmte diese Weihnachtsatmosphäre eher traurig als feierlich. Es war so wie jedes Jahr - alles was mit Weihnachten zu tun hatte, verband sich für ihn immer gleichzeitig mit dem bedrückenden Gefühl von schmerzlichem Verlust und Trauer. Und darum war ihm auch an den Festtagen nie zum Feiern zumute. Im Gegenteil: In der Weihnachtszeit zog er sich stets in die Einsamkeit zurück. Die Abendstunden des 24. Dezember verbrachte er dann jeweils warm ummantelt und mit Schal, Pudel, Handschuhen und Schneestiefeln bekleidet auf einer kleinen Anhöhe am Rande der Landstraße zwischen London und Amersham - an jener Stelle, wo einst seine Eltern an eben jenem Heiligen Abend ihr Leben gelassen hatten. In die Sterne schauend stellte er dabei die immer gleiche Frage nach dem Warum jenes unheilvollen Unglücks, ohne jemals eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten. Und jedes Jahr aufs Neue machte er sich dann in den Morgenstunden des ersten Weihnachtstages mit seinem Drahtesel durchgefroren und schwermütig auf den Heimweg in seine Wohnung. Dort angekommen aber ließ er sofort sämtliche Jalousien herunter und zog sich die Federdecke seines Bettes bis über den Kopf. Die letzten Tage des alten Jahres blieb er so für Freunde und Kollegen unerreichbar verschollen und tauchte erst pünktlich mit Anbruch des jeweils neuen Jahres wieder auf - wieder ganz der Alte, höflich, freundlich, zuvorkommend und liebenswert wie eh und je. Auch sein Zusammenleben mit Yelena hatte an diesem merkwürdigen Ritual nichts zu ändern vermocht. Wirklich verstanden hatte sie es freilich nie, wie konnte sie das auch. Dennoch ließ sie ihm - so schwer ihr die Tage ohne ihren geliebten Lukas auch wurden - diese jährlich wiederkehrende, für ihn scheinbar überlebensnotwendige Auszeit vom gesellschaftlichen Leben. Und genau dafür liebte er sie nur noch umso mehr.

Ein kurzer, kühler Windhauch riß Lukas aus seinen schwerwiegenden Gedanken. Die Flammen der Kerzen auf dem Adventsgesteck erzitterten für einen Augenblick, dann aber kehrten sie rasch - als sei nichts gewesen - zu ihrem ruhigen gleichmäßigen Flackern zurück. Claudia, die vor dem Weihnachtsbaum stand und dort noch einmal die rechte Plazierung der Weihnachtsbaumkugeln kontrollierte, schien von der kaum wahrnehmbaren, zugigen Heimsuchung gar nichts mitbekommen zu haben. Stattdessen warf sie noch einen letzten prüfenden Blick auf die prächtig zurechtgemachten Tanne, nickte zufrieden und nahm dann auf der Couch Platz, wo sie sogleich die Füße hoch legte und die Hände andächtig in ihrem Schoß zusammenfaltete. Und während sie ihre Augen schloß, begann sie - offenbar vom Geist der Weihnacht heimgesucht - leise vor sich her zu summen.

Während Lukas dem lieblichen Summen Claudias zu lauschen versuchte, bemerkte er ganz nebenbei vom Flur her ein merkwürdiges Rascheln. Er begab sich vorsichtigen Schrittes auf die angelehnte Zimmertür zu, die sich im selben Moment wie von Geisterhand öffnete. Zentimeter um Zentimeter vergrößerte sich dabei völlig lautlos der Spalt zwischen Tür und Türrahmen, bis schließlich jemand auf leisen Sohlen das Zimmer betrat ... Lukas erschrak und atmete eine Sekunde später erleichtert auf. Der heimliche Eindringling war nur das kleine, schwarze Katzenkind, das nun zielsicher durch den Raum auf die Couch zulief und dort mit einem großen Satz auf den Schoß seines Frauchens hüpfte. Claudia stockte für einen Moment der Atem, so sehr hatte auch sie dieser völlig unerwartete Überraschungsangriff erschreckt. Nachdem die Schrecksekunde vorbei war, atmete sie einmal ganz tief ein und wieder aus und sagte: "Du kleiner Schlingel, Du! Da hast Du mir aber einen Riesenschreck eingejagt. Wie bist Du denn überhaupt reingekommen? Ich dachte, ich hätte die Hintertür vorhin fest zugesperrt?! Naja, da hab ich mich wohl geirrt!". Dann begann sie, das Kätzchen zu streicheln und zu kraulen, was das Tier sofort mit einem wohlig-zufriedenen Schnurren beantwortete.

Lukas war vom liebevollen Schmusen der Zwei so angetan, daß er gar nicht registierte, wie im Türrahmen der nun nahezu völlig offenstehenden Zimmertür die Gestalt eines Mannes auftauchte, der einen metallisch blinkenden Gegenstand in der linken Hand hielt, wobei er gleichzeitig mit der rechten einen weiteren zylinderförmigen Metallkörper aus der Jackentasche seines maßgeschneiderten Anzugs holte. Sein Blick war die ganze Zeit starr auf die auf der Couch sitzende Claudia gerichtet, auch dann noch, als er mit ruhiger Hand und geradezu leidenschaftlicher Hingabe jenen mysteriösen Metallzylinder auf das schmale Ende des anderen, rechtwinklig gebogenen Metallkörpers aufzuschrauben begann.

Claudia setzte derweil nicht weniger leidenschaftlich die Liebkosung ihres flauschigen Kätzchens fort. Sie ahnte nichts von der Anwesenheit jenes fremden Mannes, dessen Augen nun schon eine ganze Weile allein auf sie gerichtet waren. Stattdessen begann sie erneut, leise zu summen. Und jenes Summen ging dann - scheinbar im Überschwang vorweihnachtlicher Gefühle - recht schnell in einen unbeschwerten, engelhaften Freudengesang über. Das Lied aber, das die schöne Sekretärin mit ihrem unschuldigen, glasklaren Stimmchen so anrührend intonierte und dessen Melodie jetzt auch Lukas erkannte, war der Weihnachtsklassiker schlechthin: "Stille Nacht, Heilige Nacht".

Auch an das Ohr des fremden Eindringlings drang Claudias lieblicher Gesang. Und während er bedächtig lauschte, winkelte er den rechten Arm vorsichtig an und brachte ihn in dieser Haltung auf Brusthöhe, während er mit der linken Hand den mitgeführten Metallkörper samt daran befestigten Zylinderstück darüber plazierte und beides über eine angebrachte Visiereinrichtung in aller Ruhe präzise auf Claudias Hinterkopf auszurichten begann. Kein Zweifel: Was der Fremde da in der Hand hielt, war eine Handfeuerwaffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer. Der Fremde selbst aber war kein anderer als G.O. van Ni, jener auf Claudia angesetzte, bezahlte Auftragskiller.

Das völlig ahnungslose weibliche Geschöpf auf der Couch unterbrach unterdess ihre gefühlvolle Gesangsdarbietung und kraulte stattdessen wieder das süße, kleine Schnurrkätzchen, wobei sie leise vor sich her gähnend sprach: "Ach, was bist Du nur für ein liebes Tierchen. Weißt Du was? Ich bin jetzt ein wenig müde und werd mich noch ein Stündchen schlafenlegen". Mit diesen Worten setzte sie das Kätzchen vossichtig auf dem Fußboden ab, legte ihren Kopf auf der Seitenlehne der Couch, winkelte die Beine an und schloß die Augen.

Der Killer hatte sein Ziel durch diese Aktion Claudias fürs Erste aus dem Auge verloren. Die Rückenlehne der Couch versperrte ihm jetzt die Sicht auf sein Opfer. Um die einschlafende Schönheit nun anvisieren zu können, mußte er es schon wagen, sich ihr ein paar Schritte anzunähern. Behutsam schlich er sich daher aus seinem Versteck an die Couch heran, wodurch nun auch Lukas seiner gewahr wurde. Der Ex-Inspektor erschrak, und das keineswegs nur über den plötzlichen Auftritt des Profikillers, sondern auch, weil er ihn wiedererkannte. Hinter dem Decknamen G.O. van Ni verbarg sich nämlich niemand anders als der einstige Leibwächter Salvatore Spirellis, den er seinerzeit ebenfalls bei der Razzia in dessen Villa kennengelernt hatte - ein Mann namens Giovanni Brutallo.

Selbiger beugte sich just in diesem Moment, ein Auge zudrückend und das schallgedämpfte Mordinstrument erneut in Anschlag bringend über die Couch hinweg zu der mit halboffenem Mund schon recht flach atmenden Claudia hinunter. Und mit einem eiskalten Grinsen im Gesicht hauchte er: "Jetzt zähl ich noch rasch bis Drei, mein Vögelchen, dann folgt ein präziser Schuß direkt in Deine Schläfe und dann wirst Du noch viel ruhiger und fester schlafen als jetzt!". Und während sein rechter Zeigefinger sich am Abzugshahn bereits zusehends zu krümmen begann, zählte er langsam: "Eins, zwei, ...".

Die unschuldige Claudia lächelte süß. Längst war sie entschlummert und in ihren Träumen im Land der Märchen angekommen, in welchem sie sich vor nichts und niemandem mehr zu fürchten brauchte, und in dem ein gutaussehender dunkelhaariger Prinz mit großen blauen Kulleraugen auf einem weißen Pferd angeritten kam und dabei alle Hindernisse überwand, um sie schließlich sanft aus ihrem Schlaf wachzuküssen. Mit keiner Silbe jedoch ahnte sie dabei, daß jenseits dieser Märchenwelt ihr unschuldiges junges Leben jetzt nur noch ein einziges Wort lang dauern sollte. Jenes Wort, das in diesem Augenblick eiskalt gehaucht die Lippen des Profikillers verließ:

"Drei!"

Die letzte Zahl war ausgesprochen, und Lukas zuckte dabei in sich zusammen. Er wartete mit zusammengekniffenen Augen auf das kurze, pfeifende Geräusch jenes gedämpften Schußes, der Claudia unweigerlich vom Leben zum Tode beförderte. Doch es blieb aus! Stattdessen herrschte sekundenlang völlige Stille im Raum. Nur langsam wagte es der Ex-Inspektor, die Augen wieder aufzutun. Was er dabei erblickte, war ein noch immer dicht über Claudias schlafenden Körper gebeugter Killer, dessen gekrümmter Zeigefinger den Abzug seines Mordwerkzeugs allerdings allmählich wieder freizugeben schien. Und während Giovanni die Waffe dabei langsam sinken ließ, raunte er leise: "Oh, mein Gott! Wie schön sie doch ist! Wie süß und unschuldig! Wie sie da liegt, erinnert sie mich an Dich, Mama! Ach Mama, warum nur hat man Dich mir so früh weggenommen? Auch Du hast mir doch jedes Jahr zur Weihnachtszeit das Lied von der stillen und heiligen Nacht vorgesungen. Genauso gefühlvoll wie jenes zauberhafte Geschöpf hier. Ich hab keine Ahnung, was hier grad mit mir geschieht! Warum kann ich nicht wie sonst in aller Seelenruhe abdrücken? Weshalb nur schlägt stattdessen mein Herz so schnell? Aus welchem Grund ist mir heiß und kalt gleichzeitig? Weshalb kann ich nicht wenigstens einfach weglaufen? Warum sind meine Füße plötzlich schwer wie Blei? Wieso um alles in der Welt kann ich den Blick einfach nicht mehr von ihr wenden?"

Lukas schaute den eben noch so skrupellosen Killer entgeistert an, dann schweifte sein Blick hinüber zu seinen Eltern. Maria aber sagte: "Du kennst die Antwort auf all seine Fragen, mein Sohn? Und dieser junge Mann mit dem so todbringenden Job kennt sie auch! Er muß sie nur noch erkennen, und sich zu ihr bekennen! Was ihn von der Durchführung seines Auftrags Abstand nehmen läßt und ihn gleichzeitig immer mehr zu der bezaubernden Erscheinung Claudias hinzieht, ist jenes Wunder, von dem Dein Vater noch vor kurzem sprach - Jenes Wunder, das geschehen mußte, um Claudias Leben zu retten. Jenes Wunder, das so alt ist wie die Welt selbst! Und dennoch erstaunt es uns immer wieder aufs Neue, weil es uns meist ganz unverhofft begegnet, und weil wir so gar nichts dafür oder dagegen tun können. Ja, Lukas, es ist dasselbe Wunder, das Deinem Vater und mir schon beim allerersten Zusammentreffen geschah und das auch Dir vor ein paar Jahren just an Deinem zehnjährigen Dienstjubiläum beim Yard in Form Deiner Yelena begegnet ist - das Wunder der Liebe! Ein absolut zauberhaftes, magisches Gefühl!".

Das war das Stichwort für Joseph Svensson: "Magisch! Ganz richtig! Und darum würde ich hier und jetzt aus gegebenem Anlaß auch gern eine kleine Kostprobe meiner Zauberkünste zum Besten geben!". Lukas schaute seinen Vater ein wenig skeptisch an, worauf dieser sogleich in seinen Ausführungen fortfuhr: "Ja, ich weiß, in der Vergangenheit war es um meine magischen Fähigkeiten nicht gerade rosig bestellt!". Lukas mußte unweigerlich schmunzeln bei soviel Untertreibung. Jedes Jahr zu Ostern hatte sein Vater in seinen Kindertagen nämlich aufs Neue versucht, einen Hasen aus seinem Hut zu zaubern. Und die flinken Tierchen waren ebenso jedes Jahr aufs Neue allesamt stiften gegangen, bevor er sie überhaupt in seinen alten löchrigen Zylinder hineinstecken konnte. Am Ende war die ganze Familie hinter dem Hoppelhasen hergelaufen, bis man ihn irgendwann doch wieder einfing. Und die Einzige, die dann doch noch gezaubert hatte, war Mutter Maria, indem sie den Hasen dank ihrer Kochkünste in einen leckeren Osterbraten verwandelte.

Joseph Svensson setzte unterdess seine berüchtigte, würdevolle Zauberermine auf und deutete mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf einen Anhänger des Armkettchens, welches Giovanni Brutallo am linken Handgelenk trug. In jenen Anhänger war einmal mehr der Schiftzug "I.O.U" eingeprägt. Vater Joseph ließ nun seinen Zeigefinger vor dem Anhänger kreisen und sprach dabei die magische Zauberformel: "Hokus, Pokus, Fidibus, dreimal schwarzer Kater!". Und sichtlich verblüfft registrierte Sohnemann Lukas, wie in diesem Moment aus dem "O" jenes Schriftzugs ein rotes Herz entstand, welches die abgekürzte Besitzerklärung schlagartig in eine glühende Liebeserklärung umwandelte.

Der Mann aber, an dessen Handgelenk jene abgekürzte Liebeserklärung nun baumelte, beugte sich noch tiefer zu der sorglos schlummernden Frau herunter und drückte ihr statt des eiskalten Stahles seines Schalldämpfers einen zärtlich gedämpften Kuß in das verträumt lächelnde Gesicht. Erschrocken schlug Claudia dabei ihre Augen auf und starrte entsetzt erst auf Giovanni und dann auf die herabgesenkte Waffe in dessen Hand. Der umgewandelte Ladykiller aber zögerte nun keinen Moment und legte sein grausames Mordwerkzeug vertrauensvoll in Claudias zarte rechte Hand. Dabei flüsterte er entschlossen: "Tu damit, was Du für nötig hälst! Töte mich meinetwegen! Ich hab es ja nicht anders verdient! Was soll ich auch weiterleben, wenn Du mich verachtest oder gar haßt! Ich weiß zwar nicht genau, warum ich das tue, aber mein Leben liegt jetzt ganz in Deiner Hand!". Verblüffung machte sich in Claudias Gesicht breit, während sie die Waffe wie einen Fremdkörper zwischen zwei Fingern durch die Luft schaukeln ließ. Eine ganze Weile schaute sie ihrem Gegenüber ganz tief in die Augen, dann stammelte sie: "Ich begreife nicht, was hier geschieht! Du wurdest doch angeheuert, mich zu töten, richtig?! Aber Du tust es nicht! Stattdessen knutschst Du mich wach, gibst Du mir Deine Knarre und überläßt es mir, ob ich Dich abknalle oder nicht?! Bist Du nicht ganz dicht, oder was?!". Giovanni zuckte mit den Schultern, während seine blauen Augen die schöne Claudia ununterbrochen anstrahlten. Statt einer Antwort aber begann er plötzlich mit tiefer Baßstimme "Killing me softly" anzustimmen - so tief und so falsch, daß Claudia, ohne es zu wollen, trotz der unmöglichen Situation schmunzeln mußte.

Auch Maria schmunzelte, als sie ihren Sohn anstubste und sagte: "Tja, die Liebe ist ein seltsames Spiel! Und eh Dein Vater jetzt auch noch anfängt zu singen, verrat ich Dir mal lieber, wie die Geschichte von Claudia und Giovanni in der Kurzfassung weitergeht. Die Beiden reden hier noch einige Stunden ganz ernsthaft miteinander. Und dabei fordert Claudia Giovanni auf, sich als Beweis seiner Liebe der Polizei zu stellen und gegen seinen Boß auszusagen, ohne daß sie ihm irgendwelche Hoffnungen macht. Doch keine Sorge, während er seine Zeit im Knast absitzt, bleiben die Zwei in ständigem Briefkontakt. Giovanni lernt dabei langsam, sich zu öffnen und ihr mitzuteilen, wie es tief in ihm drin tatsächlich aussieht. Und was Claudia dort entdeckt, das gefällt ihr! Schließlich nimmt sie irgendwann all ihren Mut zusammen und besucht ihn im Gefängnis. Erst einmal, dann immer häufiger. Die Zwei kommen sich näher und näher! Irgendwann wird Giovanni wegen guter Führung vorzeitig entlassen, und Claudia probiert es einfach mit ihm. Naja, und was soll ich sagen: Der Ladykiller und das Singvögelchen werden ein Paar, ein echtes Traumpaar sogar - und das, wo doch alles am Anfang eher nach Albtraum aussah, oder?!".

Lukas nickte zufrieden. Und nun meldete sich noch einmal Vater Joseph zu Wort: "So, mein Junge! Nach all diesen Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Schattenmann im Dunkeln in Berührung kamen, ist es jetzt an der Zeit, endlich die geheime Identität des großen, mächtigen Unbekannten aufzudecken sowie die ganze Reichweite seiner verbrecherischen Machenschaften. Bist Du bereit, Lukas?". Abermals nickte Lukas eifrig und antwortete, indem er die aufgestellte Handfläche mittig mit dem Daumen nach unten über seinem Kopf plazierte: "Immer bereit!". Mutter Maria aber zauberte mit dem tropfend heißen Wachs einer der brennenden Kerzen vom Adventsgesteck innerhalb weniger Augenblicke die Zahl 21 auf die Wohnzimmertür, in deren hell aufleuchtendes Licht sie und ihre beiden Männer einmal mehr voll gespannter Erwartung Einzug hielten ...

Türchen No. 21: Scacco matto - Schach und Matt - BITTE ANKLICKEN!

Wo das Licht des Zeittunnels die Svenssons wieder freigab, befand sich dieses Mal ein riesiges düster eingerichtetes Büro, das seinen Ausmaßen und dem vermutlichen Gesamtwert seiner exquisiten Ausstattung nach eher einem kleinen Palast gleichkam. An den unzähligen Schreibtischen und um sie herum herrschte ein geschäftiges Treiben. Es war unheimlich schwer, die Anzahl der hier anwesenden Angestellten genau festzustellen, da sie sich flink wie die Ameisen hin und her bewegten - und so konnte Lukas bei seinem dementsprechenden Versuch auch nur schätzungsweise 40 bis 50 Personen zählen. Über dem auf einer Art Podest ein wenig erhöht gelegenen, unbesetzten Schreibtisch im Zentrum des Raumes, der ganz offensichtlich komplett aus reinem Elfenbein gefertigt war, aber hing von der Decke an einem riesigen Kronleuchter befestigt eine schwarze, polierte Granitplatte, In diese waren mit blattgoldener Schrift die riesiggroßen Buchstaben "I.O.U." eingelassen. Darunter stand in etwas kleinerer Schrift "Illegal Organisations United", scheinbar der Name jener monströsen Firma. Lukas drehte sich immer wieder um die eigene Achse, um so das ganze Ausmaß des Raumes zu erfassen. Dabei gelangte er rasch zu der Auffasung, daß man als Besucher dieser Stätte wohl nicht umhin kam, sich selbst als kleines, unscheinbares Nichts zu empfinden. Ein zweites Mal erhob er seinen Blick zu dem alles überragenden Elfenbeinschreibtisch, hinter dem in einem gewaltigem ledernen Chefsessel sonst sicher der allmächtige Boß des Unternehmens zu thronen pflegte. Wer hier arbeitete, stand unter der ständigen Beobachtung seines Chefs und war gezwungen, die gesamte Zeit über ununterbrochen zu ihm aufzuschauen - stets geblendet entweder vom Prunk und Glanz seines strahlendweißen Schreibtischs oder aber von dem Glitzern des diamantenbehangenen Kristallkronleuchters an der Decke.

Vater Svensson fand es erneut an der Zeit, seinen Sohn über ein paar Fakten bezüglich ihres Aufenthaltsortes aufzuklären: "So, Lukas, hier befinden wir uns nun an der Schaltstelle jener dunklen Macht, die ihre Hand nach der uneingeschränkten Herrschaft im Königreich ausstreckt und dabei in ihrer Skrupellosigkeit vor keiner noch so brutalen Straftat zurückschreckt - sei es nun Bestechung, Spionage, Erpressung, Raub, Körperverletzung oder auch Mord. Am Schalthebel dieses schwerkriminellen Unternehmens aber sitzt seit vielen Jahren ein einziger Mann - sozusagen der Pate von London, dessen größenwahnsinniger Traum darin besteht, einmal der Herrscher über die gesamte Menschheit zu sein. Leider treffen wir ihn im Moment hier nicht an, da er einen wichtigen Anruf bekam, in dem ihn einer seiner Spitzel bei Gericht darüber informierte, daß es einen Kronzeugen gibt, der bereit wäre, in einem Prozeß gegen ihn auszusagen - einen gewissen George Adams, seines Zeichens Chauffeur beim Chef von Scotland Yard. Der Schattenmann hat daraufhin beschlossen, nach dem so plötzlichen Verschwinden seines besten Auftragskillers Giovanni Bruttalo die Sache diesmal selbst in die Hand zu nehmen. Dabei steht ihm ein ebenfalls erst vor wenigen Stunden reumütig in seine Reihen zurückgekehrter Abtrünniger zur Seite, der mit ein paar Recherchen am Telefon und im Internet den momentanen Aufenthaltsort von Mister Adams ausfindig gemacht hat. Die Polizei brachte George Adams zwar in einen geheimgehaltenen Versteck unter, aber das Netz der Spitzel des Unterweltbosses ist inzwischen engmaschig genug gestrickt, um auch solche Verstecke ausfindig zu machen. Es gelang dem Helfer des Schattenmanns ferner, auch Adams Frau und seine Kinder in einem zweiten Versteck aufzuspüren, in seine Gewalt zu bringen und sie nun als Druckmittel gegen den besorgten Familienvater einzusetzen. So war George Adams relativ leicht dazu zu bewegen, sich mit unserem Schattenmann und seinem neuen alten Mitarbeiter an einem telefonisch mitgeteilten, öffentlichen Ort zu treffen - zu einem letzten klärenden Gespräch, nach dessen Ende George ungeachtet des Ausgangs der Unterhaltung versprochen wurde, seine Familie frei zu lassen und ihr kein Haar zu krümmen. Der arme George ist in diesem Augenblick im Rolce Royce seines Chefs zum vereinbarten Treffpunkt unterwegs. Und wir sind es jetzt auch ...".

Damit holte Vater Svensson mit der linken Hand eine schwarze Sonnenbrille aus der Hosentasche seines Anzugs hervor und setzte sie auf, wobei er mit der rechten Hand zeitgleich einen kugelschreiberähnlichen Stift aus der Brusttasche zog und auf dessen seitlichen Knopf drückte. Mutter Svensson hielt sich dabei in weiser Vorahnung beide Hände vors Gesicht, während aus der Spitze des Stiftes ein greller Blitz aufzuckte und den gesamten Raum mit einem blendenden Licht erfüllte. Es dauerte etwa eine Minute, bis Lukas wieder etwas in seiner Umgebung zu erkennen vermochte - erst nur schemenhaft, dann immer deutlicher, so als sei sein Umfeld das Resultat einer Sofortbildaufnahme, die sich vor dem wartenden Auge ihres Betrachters erst langsam entwickeln mußte. Was sich da entwickelte, war nun ein komplett anderes Bild als das des palastartigen Verbrecherbüros. Den jetzt vor seinen Augen erscheinenden Ort kannte Lukas nämlich - er kannte ihn sogar ziemlich genau, war er doch schon einige Male hier gewesen. Zweifelsohne befanden seine Eltern und er sich jetzt einmal mehr mitten in der Bahnhofsvorhalle der Londoner Victoria Station. Auch hier herrschte wieder emsiges Treiben. Ebenfalls wie die Ameisen auf ihren Haufen strömten An- und Abreisende kreuz und quer durcheinander. Mitten im Gewühl aber erblickte Lukas einen alten Bekannten, der hier scheinbar auf jemanden wartete. Dieser Ausschauhaltende war sein Freund und Schützling Tim Hackerman, der just in diesem Moment von einem Mann ganz in Schwarz angesprochen wurde, welcher eine verspiegelte Sonnenbrille, einen dicken Schal und eine schwarze Schirmmütze trug, die allesamt sein Gesicht vor den neugierigen Blicken der Umstehenden zu verbergen versuchten. Erst als der incognito erschienene Mann zu reden anfing, lüftete sich damit auch für Lukas das Geheimnis seiner Identität. Es war ganz klar George Adams, der Timmy nun aufgeregt zuflüsterte: "Ok, was verlangen Sie und der Boß also von mir, damit sie meine Frau und meine Kinder wieder freilassen?". Timmy schüttelte den Kopf: "Nicht hier, Adams! Begeben Sie sich unauffällig auf die Herrentoilette und gehen Sie in eine der Kabinen. Wir treffen uns dort in 5 Minuten! Dann erfahren Sie alles weitere. Und keine Tricks, oder Ihre kleine Familie ist tot!".

Lukas konnte nicht fassen, was er da hörte. Anscheinend hatte Timmy es sich nach seiner Aussage bei der Polizei doch anders überlegt und war wieder zu seinen alten Verbrecherfreunden zurückgekrochen. Dabei hatte es doch so ausgesehen, als würde der Junge nach dem emotionalen Wiedersehen mit seinem Vater auf den rechten Weg zurückfinden. Und nun das! Was für eine bittere Enttäuschung. Lukas sah seinen Vater an, der sich, was Timmy anging, in seiner vorherigen Zukunftsprognose scheinbar völlig vertan hatte. Aber der zuckte nur mit den Schultern. Dann machte auch er sich auf zu dem Räumlichkeiten der Bahnhofstoilette. Maria und Lukas aber folgten ihm schweigend nach.

Kaum, daß die drei Svenssons die Tür zu den Toilettenräumen durchschritten hatten, wurde eben diese Tür hinter ihnen weit geöffnet, und Tim Hackerman trat ein. Dabei erblickte er an einem der Waschbecken stehend einen ärmlich gekleideten Mann, der dabei war, in einer Blechdose Wasser aufzufangen, welches sanft plätschernd dem darüberbefindlichen Hahn entströmte. Lukas wußte, auch ohne das Gesicht des Mannes zu sehen, sofort, daß es sich bei jenem Toilettenbesucher nur um Alberto Scampi handeln konnte, der hier für seine durstige Hündin Trinkwasser zapfte. Timmy schritt unvermittelt auf Alberto Scampi zu, schlug ihm mit einer raschen Handbewegung die Dose aus den Fingern und herrschte den verdutzt Aufblickenden zornig an: "Blöder Penner, mach daß Du Land gewinnst, oder ich mach Dir Beine! Hier ist jetzt geschlossene Gesellschaft, verstanden!". Damit faßte er Scampi am Kragen seines Mantels und schleifte ihn neben sich her bis zur Eingangstür, durch die er ihn mit einem leichten Fußtritt nach draußen beförderte. Dann wischte er sich die Hände kurz an seinem Pullover ab und inspizierte in der Folge sämtliche Toilettenkabinen mittels Aufstoßen der Türen. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, daß nur die letzte der Zellen besetzt war - dort nämlich wartete George Adams auf die Dinge, die da kommen würden.

Und was da kam, das war ein leises Klopfen an der Eingangstür, gefolgt von einer tiefen männlichen Stimme, die mit italienisch anmutendem Akzent flüsternd fragte: "Und? Ist die Lufte rein. Kann ich eintreten, meine Freund?!". Mit einem Sprung war Tim Hackerman an der Tür, die er augenblicklich mit einer tiefen Verbeugung öffnete und dabei erwiderte: "Si, Don Vincenzo, alles zu Ihrer Zufriedenheit! Der Verräter wartet in der Zelle unmittelbar zu Ihrer Linken!". Der eintretende grauhaarige Mann mit Vollbart und schwarzem Maßanzug kniff seinem Lakaien Tim schmerzhaft in die linke Wange: "Caro mio, Du sollste mich doch Onkel Vince nennen. Alle meine Freunde tun das! Und Du biste doch meine Freund, oder etwa nicht!". Tims Gesicht verriet seine unterdrückte Furcht, während er stotterte: "Ja, si ... si ... sicher bin ich das! Es tut mir leid, daß ich bei der Po ... Po ... Polizei war. Aber mein Vater hat mich förmlich dazu ge ... ge ... gezwungen. Sagen Sie mir nur, wie ich da ... da ... das wieder gut machen kann!". Der Grauhaarige trat noch einen Schritt vor, wodurch nun endlich auch das Licht der Deckenlampe auf sein Gesicht fiel. Und Lukas Svensson sah endlich bestätigt, was er längst geahnt hatte - der Schattenmann, der hinter all den Verbrechen und den I.O.U's der zurückliegenden Zeitreise steckte, der sich von seinen Freunden und Gespielinnen am liebsten Onkel Vince nennen ließ und der im Internetchat den Decknamen Makk1 verwendete, war kein Geringerer als Vincenzo Makkaroni. Jener Vincenzo Makkaroni, dessen schlimmster Konkurrent Salvatore Spirelli gewesen war und den in der real existierenden Welt Lukas und sein amerikanischer Freund, der Terroristenjäger Jack, auf lebenslange Zeit hinter Gitter gebracht hatten. Hier aber, in einer Welt ohne Lukas, war er auf freiem Fuß und verbreitete nun allerorts Angst und Schrecken.

Auch seine Angestellten und sogenannten Freunde fürchteten sich vor dem kaltschnäuzigen Mafiosi, wie sich eben hier am Beispiel Timmys deutlich zeigte. Der Junge stand noch immer zähneklappernd mit gesenktem Blick vor seinem Herrn und Meister und erwartete dessen Befehle. Makkaroni aber klopfte ihm mit der linken Hand kräftig auf die Schulter, wobei er zeitgleich mit der rechten aus der Innentasche seines Anzugs eine kleine Plastikspritze herausholte, deren Inhalt eine in Wasser aufgelöste, für einen einzelnen "Schuß" viel zu hohe Dosis reinen, unverschnittenen Heroins war. Während der Unterweltboß noch rasch die Schutzkappe von der aufgesteckten Kanüle entfernte, verkündete er mit zorniger Stimme: "Jetzt iste es an der Zeit, diese verräterische Ratte zur Strecke zu bringen!". Und wutentbrannt stürmte er schon im nächsten Moment auf die angelehnte Tür der einzig besetzten Toilettenkabine zu. Timmy aber stellte sich ihm in letzter Sekunde in den Weg und bat dabei untertänig: "Lassen Sie mich das tun! Wenn Sie gestatten, ich habe selbst einen schallgedämpfte Pistole dabei, den ich an dem miesen Verräter gern einmal ausprobieren würde. Bitte, versagen Sie mir diesen Wunsch nicht, ich hab doch noch so viel wiedergutzumachen!". Mildlächelnd nickte Makkaroni und steckte seine Todesspritze wieder ein: "Das gefällte mir! Eine Mann mit Courage und Eigeninitiative! Nun denn, bringen wir es hinter uns! Die Geschäfte warten auf mich!". Tim Hackerman zog entschlossen seine silbernglänzende Pistole aus der Hosentasche hervor und richtete sie auf die angelehnte Kabinentür, hinter der George Adams am ganzen Leibe zitternd schon auf die Vollstreckung des draußen lautstark angekündigten Todesurteils zu warten schien. Mit seinem ausgestreckten Fuß trat Timmy schließlich die Tür sperrangelweit auf. Dann zielte er auf Georges Kopf und zögerte. Makkaroni aber feuerte ihn aus dem Hintergrund an: "Mache schon! Erschieß diesen Mistekerl! Er ist Ungeziefer, das unschädlich gemacht werden musse!". Timmy aber zögerte weiter. Da griff Makkaroni wutschnaubend voller Ungeduld von hinten nach die Waffe des Jungen, stieß den wie versteinert vor ihm stehenden Knaben mit einer einzigen Handbewegung zur Seite und schoß dann zweimal auf George Adams - einmal in die Brust und einmal in den Kopf. Die Knie des getroffenen Familienvaters knickten dabei unverzüglich ein, er griff sich mit seinen beiden Händen an die getroffenen Stellen und fiel sogleich bleischwer nach vorn. Mit dem Gesicht landete er dabei auf den kalten Kacheln des gefliesten Bodens, wo er regungslos liegen blieb, während sich unter seinem Körper in Brust- und Kopfhöhe zwei rasch größerwerdende rote Blutlachen bildeten.

Vincenzo Makkaroni aber würdigte sein Opfer von diesem Moment an keines weiteren Blickes. Stattdessen schaute er verächtlich auf den am Boden kauernden und um Gnade winselnden Timmy und schrie: "Du verdammter Versager! Kannste nicht einmal so eine einfache Sache zuende bringen! Was soll ich mit einem Trottel wie Dir noch anfangen!". Und damit legte er die schallgedämpfte Pistole auf die Brust ihres ehemaligen Besitzers an und drückte ein drittes Mal ab. Tim Hackerman aber sackte - mit dem Ausdruck starren Entsetzens im Gesicht und mit der rechten Hand die vermeintliche Einschußstelle begreifend - ebenfalls sofort vornüber in sich zusammen, und auch unter seinem leblos liegenbleibenden Körper bildete sich binnen Sekunden ein kleiner blutroter See. Makkaroni schüttelte unterdess noch einmal den Kopf und raunte dabei "Stronzo!", während er schnellen Schrittes den Tatort verließ.

Lukas' Augen glänzten tränenschwer, und traurig sprach er: "Hört denn das verdammte Morden nie auf? Soll dieser Mistkerl Makkaroni wieder einfach so davonkommen? Kann ihn denn wirklich kein Mensch aufhalten?". Mutter Svensson aber erwiderte: "Doch, ein paar Menschen können das, wenn sie nur zusammenarbeiten! Und sie haben es getan! Gerade eben hier, vor unseren Augen!". Die Eingangstür öffnete sich in dieser Sekunde erneut, und Inspektor Powerich betrat die Bildfläche. Er blickte zuerst auf den am Boden liegenden Tim, dann auf den regungslosen George, schließlich sagte er: "Hervorragend! Genauso hab ich mir das gewünscht! Cut! Meine Herren, die Sache ist im Kasten! Und dem flüchtigen Herrn Makkaroni haben die Kollegen längst ein paar schicke neue Armkettchen auf Staatskosten angelegt, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie mit den Platzpatronen der mitgeführten Pistole außer Gefecht zu setzen. Sie können sich jetzt von Ihren Plätzen erheben und ein wenig frisch machen!". Lukas aber glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als sowohl George als auch Timmy - dem Aufruf Powerichs folgeleistend - schon eine Sekunde später wieder auf den Beinen standen. Beide schauten an sich herunter und schmunzelten zufrieden. Timmy aber sprach augenzwinkernd: "Was für eine Schweinerei! Der Inhalt dieser Filmblutbeutelchen hat sich echt überall auf meinem Lieblingspulli verteilt! Hoffentlich krieg ich das bei 40 Grad wieder raus!". Und George ergänzte grinsend: "Nochmal mach ich sowas nicht mit! Nur über meine Leiche!".

Und während sich die beiden Leichendarsteller notdürftig säuberten, um sich dann erneut auf den Boden zu legen, von wo ihre vermeintlich toten Körper unter den Augen hunderter schaulustiger Zeugen wenige Minuten später in den verschlossenen Zinkwannen des herbeigerufenen Beerdigungsinstituts "Last Journey" durch die Bahnhofsvorhalle getragen wurden. Joseph, Maria und Lukas aber folgten ihnen in gebührendem Abstand. Und Vater Svensson nutzte die Zeit, um seinen Sohn über das ganze Geschehen und dessen zukünftige Auswirkungen in Kenntnis zu setzen: "Was Du soeben gesehen hast, war jene List, die nötig war, um Schattenmann Makkaroni endlich dingfest zu machen. Er wird sich nun wegen zweifachen Mordes an George Adams und Tim Hackerman verantworten müssen. Den Plan dazu haben die zwei Mordopfer höchstpersönlich mit Hilfe Deines Kollegen Powerich ausgeheckt. Der ließ Timmy nach dessen Aussage scheinbar laufen und gleichzeitig über einen der - durch Timmys Insiderwissen bekanntgewordenen - Spitzel Makkaronis beim Yard die Aufenthaltsorte von George und seiner Familie durchsickern. Timmy aber spielte Makkaroni und seinen Leuten mit Bravur den reumütig in den Schoß seiner Familie zurückkehrenden Sohn vor, der um Vergebung und eine Chance zur Bewährung bettelte. Und Makkaroni schluckte diesen Köder. Jetzt aber zappelt er an der Angel und wandert lebenslänglich in den Knast. Zeitgleich mit der Gefangennahme Makkaronis startet unter der Leitung von Interpol eine riesige Verhaftungswelle, resultierend auf allen Erkenntnissen, die die Aussagen sämtlicher Kronzeugen ergeben haben, welche da wären: Sabrina Meltstone, Claudia Palmer und Giovanni Brutallo sowie natürlich Tim Hackerman und George Adams. Im Rahmen der Ermittlungen kommt rasch auch Yardchef Crawlers Involvierung in die Machenschaften Makkaronis zur Sprache. Er wird seines Postens enthoben, den umgehend der wieder aus dem Heim entlassene Freakadelly zurückerhält. Und auch Makkaronis Strohmann für die Anwartschaft auf den Posten des Premierministers Nero Gatto wird entlarvt und vor Gericht gestellt. Die Nachfolge des ebenfalls im Auftrage Makkaronis umgebrachten Charles Wannabe aber übernimmt eine Frau, die diesen Posten schon einmal innehatte, und die noch heute weltweit unter dem Spitznamen "Eiserne Lady" bekannt ist ... So, mein Junge, das wärs dann soweit fürs Erste aus London!".

Lukas klatschte erfreut in die Hände: "Ende gut, alles gut! Dann macht Ihr Euch jetzt also wieder auf die Rückreise in den Himmel, und ich kehre in meine verlassene Wohnung zurück, oder wie?!". Mutter Maria aber entgegnete kopfschüttelnd: "Nein, mein Sohn, wir sind noch nicht am Ende unserer Reise. Ein paar bekannte Gesichter fehlen nämlich noch in unserer Sammlung - und zwar die wohl drei wichtigsten Frauen in Deinem Leben. Wie es Ihnen ohne Deine Existenz ergangen wäre, das erfahren wir nun auf dem Rest unseres Ausflugs!". Damit verrieb sie ein paar heimlich mitgenommene Tröpfchen Filmblut zwischen ihren Fingern und zeichnete eine große rote 22 auf die beiden Flügel der Klapptür am Ausgang zum Bahnhofsvorplatz. Die Klapptür selbst aber tauchte sogleich in ein seltsam weiß-blau-rot-gestreiftes Licht, in dem Lukas und seine Eltern nun zum letzten Abschnitt ihrer Reise durch die Zeit aufbrachen ...

Türchen No. 22: Eisige Verhältnisse - BITTE ANKLICKEN!

Die Reise im Lichttunnel empfand Lukas diesmal als deutlich länger. Dauerte sie sonst im allgemeinen nur wenige Sekunden, so hielt sie der helle Raum zwischen den Zeiten jetzt dem Gefühl nach schon seit mehreren Minuten gefangen. Und es verging wohl noch eine weitere Minute, bis die Füße der Svenssons wieder festen Boden unter sich hatten. Es handelte sich dabei um den schon beim ersten Auftreffen laut knarrenden Holzfußboden eines kleinen, schwach beleuchteten Zimmerchens. Seine Wände waren ringsum einheitlich mit einer ockerfarbenen, altmodisch gemusterten Tapete überzogen, deren gräulich ausgeblichene Erscheinung darauf hindeutete, daß sie wohl schon einige Jahrzehnte da hing. Lukas spitzte die Ohren und glaubte, ein leises Pfeifen zu vernehmen, obwohl der ganze Raum auf den ersten Blick vollkommen menschenleer erschien. Er ging dem - in regelmäßigen Abständen mal lauter und dann wieder leiser werdenden - Pfeifgeräusch nach und fand als dessen Ursprung eines der Fenster, die beide mit großen, dicken, von hölzernen Gardinenstangen herunterbaumelnden Stoffdecken zugehängt waren. Nun, da er sich selbst ganz nahe an einem der Fenster befand, verstand Lukas auch sofort Sinn und Zweck dieser ungewöhnlichen Maßnahme. Das Pfeifen, das er zuvor vernommen hatte, rührte nämlich ganz offensichtlich vom einem eisig kalten Wind her, dem es gelungen war, durch diverse schmale Ritzen am Rahmen und am hölzernen Sims der Fenster vorbei in das Zimmer zu gelangen. So entstand im Raum selbst ebenfalls ein kalter Windzug, dem die Stoffvorhänge - so gut es ging - Einhalt gebieten sollten. Dennoch hatte es der frostige Luftzug irgendwie geschafft, in diesem Moment bis an Lukas' Finger vorzudringen, die unter seinem Wirken augenblicklich steif zu werden drohten. 'Meine Güte!', dachte Lukas bei sich, die frierenden Hände im Bemühen um rasche Wiedererwärmung emsig aneinanderreibend, 'Wie kalt mag es da wohl draußen vorm Fenster erst sein?'.

"14 Grad Minus bei recht starkem Ostwind", antwortete die Stimme des Vaters in seinem Rücken. Lukas drehte sich erstaunt zu ihm um: "14 Grad Minus?! Wir hatten doch eben bei unserem Aufenthalt am Bahnhof kaum weniger als 0 Grad Celsius. Wie kann denn an einem einzigen Tag die Temperatur gleich so rapide in den Keller stürzen". Maria Svensson meldete sich zu Wort: "Ja, weißt Du, was London angeht, so dürfte es da wohl auch heute - einen Tag nach der Festnahme Makkaronis - in etwa Temperaturen knapp um den Gefrierpunkt haben. Aber hier in Scheremetjewo, einem kleinen Dorf nahe Moskau, ist es dann eben doch schon deutlich kälter". Lukas geriet von einer Erstauntheit unmittelbar in die nächste: "Moskau? Was um alles in der Welt machen wir denn in Moskau, mitten in Rußland?". An dieser Stelle schaltete sich Vater Svensson wieder in die Unterhaltung ein: "Wir statten - wie angekündigt - einer der Damen aus Deinem engeren Umfeld einen kleinen Besuch ab. Und da erscheint sie auch schon, und betritt die knarrenden Bretter, die für sie die Welt bedeuten". Lukas drehte sich erneut um, diesmal in Richtung der sich unter lauten Quietschen und Ächzen öffnenden Haustür, durch die nun jener eisige Wind von draußen auch sogleich in Hülle und Fülle ins Zimmer stömte. Die Frau aber, die da dick angezogen und dennoch sichtlich durchgefroren in das enge Kämmerchen hereinschneite, erkannte Lukas sofort wieder, auch wenn sie sich - seitdem er sie das letzte Mal im realen Leben traf - deutlich verändert hatte. Ihre sonst relativ glatt am Kopf herabhängenden Haare trug sie jetzt kunstvoll zu Locken eingedreht, ihre sonst zartrosa geschminkten Lippen wirkten recht blaß. Und auch ihre tiefen graublauen Augen strahlten und funkelten weit weniger, als Lukas es in Erinnerung hatte. Dennoch aber verriet die kleine, niedliche Einkerbung einer alten Brandnarbe auf ihrer linken Wange sie sofort. Nein, da gab es auch nicht die geringste Spur eines Zweifels: Jene Frau, die hier unmittelbar vor ihm stand und gerade tief durchatmend ihre Pelzmütze absetzte, war einmal seine Frau gewesen - Nina Svensson, geborene Simowa.

Simowa, das kam vom russischen Wort für Winter, und genau diesem war sie hier gerade erst entschlüpft. Nun aber suchte ihr Körper die Wärme und bewegte sich deshalb umgehend auf den großen Kachelofen zu, der nahezu ein Viertel des Zimmers einnahm, und auf dem man sogar ein wohlig warmes Nachtquartier beziehen konnte. Nina öffnete die gußeiserne Ofenklappe und warf dann mit ihren zarten, zittrigen Händen ein paar Scheite vom unmittelbar daneben liegenden Brennholz nach, worauf die Flamme im Ofeninneren sofort gierig züngelnd von dem Objekt ihrer heißen Begierde Besitz ergriff. Nina aber hielt ihre eiskalten Händchen direkt davor und seufzte zufrieden. Ein paar Minuten verharrte sie in diesem Zustand, dann aber begab sie sich schnellen Schrittes zu einer Klappe am hinteren Teil des Ofens, dem beim Öffnen ein lieblicher Duft entströmte. Lukas schnupperte neugierig, und was da warm in seine Nase stieg, roch nach frisch gebackenem Brot. Ja, auf Lukas' Spürnase war Verlaß - wenn es um das Lösen eines kniffligen Kriminalfalles ging ebenso, wie wenn es um das Erriechen von Düften ging. Und so erstaunte es ihn auch nicht, als Nina im nächsten Moment einen großen, runden Laib Brot mit knusprig goldbraun gebackener Kruste aus dem Ofeninnern hervorholte. Rasch überführte sie ihren erhitzten Laib auf den kleinen, wackligen Küchentisch, der anscheinend ähnlich viele Jahre auf dem Buckel hatte wie die Tapete und die gesamte restliche Wohnungseinrichtung. Nina nahm ein riesiges Küchenmesser zur Hand und begann, das dampfende Backwerk mit geübter Hand in fingerdicke Scheiben zu zerschneiden. Als sie dies erledigt hatte, kramte sie aus der Tasche ihres Pelzmantels ein kleines Päckchen hervor, dessen äußere Hülle gänzlich aus schmierig-fettgetränktem Butterbrotpapier bestand, aus welchem sie mit wenigen Handgriffen einen großen Würfel kleinlöchrigen Käses hervorzauberte. Auch der Käse bekam wieder die Schneide des Küchenmessers zu spüren und lag schon Sekunden später in dünnen Scheiben neben dem Brot auf einem großen hölzernen Schneidebrett in der Mitte des Tisches.

Nun begab sich Nina noch einmal mit einem Metalleimer in der Hand vor die Tür, scheinbar um von draußen Wasser aus einem Brunnen zu holen. Maria Svensson aber nutzte die Zeit ihrer Abwesenheit für ein paar klärende Bemerkungen: "Sicher wunderst Du Dich immer noch, was sie hier tut, mitten in der Eiseskälte von Mütterchen Rußland?". Lukas nickte: "Natürlich! Schließlich hat sie in all den Jahren unseres Zusammenseins ja immer wieder betont, daß sie keine zehn Pferde mehr nach Rußland zurückbrächten!". Joseph Svensson hakte ein: "Ja, das stimmt! Und sicher erinnerst Du Dich auch noch ziemlich genau an Euer Kennenlernen?!". Erneut nickte Lukas heftig: "Das war im Oktober 1983, als ich noch ein kleiner Streifenpolizist war. Sie hatte sich eines Tages an einem Zaun in unmittelbarer Nähe von Downing Street 10 festgekettet. Sie meinte nämlich, daß vor allem die Ausländerpolitik der damaligen Premierministerin daran Schuld war, daß man bei der zuständigen Londoner Behörde ihre zum bevorstehenden Jahreswechsel auslaufende Aufenthaltsgenehmigung für das Königreich nicht verlängern wollte. Mich aber hatte man mit der delikaten Aufgabe betraut, die recht störrische junge Dame zum Aufgeben ihres Vorhabens zu bewegen, was sich schwieriger gestaltete als gedacht. Statt sich nämlich auf mein höfliches und freundliches Zureden hin die Ketten von mir abnehmen zu lassen, hat mir dieses Fräulein Simowa erstmal eiskalt vors Scheinbein getreten und die Zunge rausgestreckt. Ganze 12 Stunden hab ich daraufhin all meine Überredungskünste bemüht, aber ohne Erfolg. Erst als ich ihr vor mehreren Zeugen eine schriftliche eidesstattliche Erklärung unterschrieb, in der ich mich verpflichtete, ihr bei der Verlängerung ihres Aufenthalts durch alle nötigen Instanzen bis zum erfolgreichen Abschluß zu helfen, ließ sie sich schließlich von mir entfesseln. Und dabei war das noch der einfache Teil der Übung. Viel zermürbender und schwieriger war das, was dann folgte - das Hin und Her zwischen den einzelnen Behörden, von denen sich keine für zuständig hielt. Und jede Amtsstube bescherte Nina und mir mindestens zwei neue Formulare, die unbedingt ausgefüllt werden mußten. Am Ende hatten wir ganze zwei Monate gebraucht, bis Nina endlich den erlösenden Bescheid in Händen hielt. Aber bei all den zweisamen Gesprächen in den Warteräumen der Amtsstuben und dem gemeinsamen Ausfüllen der Formularberge waren wir Zwei uns näher gekommen - so nahe, daß sie ihren Sieg über den Amtsschimmel kurzerhand gebührend mit mir feierte. Wir begossen unseren Erfolg mit einem Gläschen Sekt, aus dem schnell eine ganze Flasche wurde und dann noch eine zweite. Leicht beschwipst beendeten wir unsere kleine Siegesfeier in meinem Bett und setzten sie am nächsten Morgen mit einem gemeinsamen Katerfrühstück fort. Und weil wir im Formulareausfüllen gerade so schön geübt waren, ließen wir es uns knapp zwei Jahre später auch nicht nehmen, ein weiteres gemeinsam in Angriff zu nehmen: Unseren Antrag auf Eheschließung, dem am 22. April 1986 unsere Hochzeit folgte. Der Heiratsantrag ersparrte Nina übrigens auch das erneute Hickhack um eine weitere Verlängerung ihrer jeweils auf zwei Jahre befristeten Aufenthaltsgenehmigung. Nina aber fand mit meiner Unterstützung schon wenig später aufgrund ihrer ekzellenten Russischkenntnisse eine Anstellung in der Visaabteilung der Russischen Botschaft in London, wo sie - zumindest im realen Leben - noch heute tätig ist und nebenberuflich auch Landsleute unterstützt, denen es mit den britischen Behörden genauso ergeht wie ihr einst".

Joseph Svensson, der während der Ausführungen seines Sohnes mehrfach schmunzeln mußte, schaute nun wieder recht ernst und sprach: "So war das! Aber da es Dich ja mal wieder nicht gab - in der Vergangenheit unserer alternativen Zukunft - hat ihr auch niemand geholfen, die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung durchzuboxen. Im Gegenteil: Man hat sie allein wegen ihres aufsehenerregenden Protestes sogar noch schneller zurück nach Rußland abgeschoben. Dort gelang es ihr nur schwer, wieder Fuß zu fassen. Um nicht permanent am Hungertuch nagen zu müssen, ließ sie sich schließlich recht überstürzt auf eine Eheschließung mit einem Ortsansässigen ein - dem Malermeister Boris Pjetschalow - und wurde dadurch nun Frau Nina Pjetschalowa. Ihr Mann war anfangs ein ruhiger Mensch, dem sie trotz seines damaligen gelegentlichen Hanges zum übertriebenen Wodkakonsum mit Achtung begegnete und im November 1988 einen Sohn namens Durak gebar". Lukas räusperte sich kurz und fragte: "Und Lisa, unsere Tochter?! Was ist mir ihr?". Vater Svensson zuckte mit den Schultern: "Was soll mit ihr sein?! Es gibt sie nicht, ebensowenig wie es Dich als ihren Erzeuger gibt!". Lukas' Augen blickten traurig ins Leere, als suchten sie dort das Bildnis seiner ungeborenen Tochter zu finden, während Joseph Svensson unvermittelt weiterredete: "Was jedenfalls diesen Durak angeht, der ist ein Taugenichts und Schnorrer. Kein Wunder, hat er doch zuhaus nur wenig Schönes gesehen und den Schulunterricht ständig geschwänzt. Sein Vater war ihm kein großes Vorbild, denn der mutierte rasch zum ständig besoffenen Schläger, der seinen Unmut über alles und jeden mit den Fäusten an seiner Frau ausließ. Und Nina, die kann ihn nicht verlassen, weil sie nicht weiß, wo sie sonst hin soll. Stattdessen versucht sie, dem versoffenen Kerl als treusorgendes Weib ein schönes Heim zu bieten - in der Hoffnung, er würde sich ändern. Aber der Lump weiß das im ständigen Delirium gar nicht zu würdigen und haut ihr bei seiner torkelnden Heimkehr meist das gesamte Inventar zusammen. Was zurückbleibt, ist stets ein Haufen Scherben - einer, unter dem auch all ihre Hoffnungen auf Liebe und Glück in Einzelteilen begraben liegen".

Die Haustür öffnete sich wieder, und Nina kehrte fröstelnd mit einem vollen Wassereimer zurück. Seinen Inhalt goß sie teilweise umgehend in den dafür vorgesehenen Behälter eines, in einer Nische des Ofens stehenden, arg verbeulten, kupferfarbenen Samowars. Wenig später kochte das Wasser in dem Behältnis, von wo sie es mittels des angebrachten Hahns in eine bereits mit Teesud befüllte reichverzierte Porzellantasse einfüllte. Als sie die Tasse dann gerade genüßlich an ihre blassen Lippen führen wollte, wurde krachend die Tür aufgestoßen, und ein tollpatschiger Kerl mit einem zerzausten Vollbart und einem nicht weniger ungepflegtem Äußeren fiel aus dem Türrahmen heraus ins Zimmer, direkt vor Ninas Füße. Schwerfällig erhob sich der Bärtige wieder, wobei ihn die hinzugeeilte, ängstlich dreinschauende Nina stützen wollte. Doch der ungepflegte Mensch, dessen Atem ekelerregend nach billigem selbstgebrannten Fusel stank, schupste sie brutal zur Seite, während er sie laut rülpsend anbrüllte: "Weg da, Miststück! Ich brauch Dein dämliches Mitleid nicht! Mach mir lieber was Ordentliches zu fressen und zu saufen". Mit zitternden Händen reichte sie ihrem, nur mühsam auf die Beine kommenden Mann das vorbereitete Brot und den Käse und schob ihm - während er sich auf einen bereitstehenden Holstuhl fallen ließ - selbstlos auch noch ihre Tasse mit dem Tee herüber. Er nippte ein wenig an dem heißen Getränk, dann schleuderte er seiner Frau in hohem Bogen die Tasse samt kochendheißem Inhalt entgegen und schrie: "Verdammte Hexe! Willst Du mich umbringen! Behalt Deinen scheiß Tee für Dich selber und bring mir gefälligst was Vernünftiges! Wo bleibt mein Schnaps?!". Verzweifelt versuchte Nina, den ohnehin schon völlig Betrunkenen umzustimmen: "Meinst Du nicht, Du hast schon genug für heute, Boris?!". Eine schallende Ohrfeige in ihrem Gesicht war die Antwort, untermauert durch ein gebrülltes: "Halt's Maul! Ich entscheide, ob und wann ich genug habe, Du Schlampe!". Und dann richtete er sich krampfhaft an der Tischplatte auf und fegte mit seinem linken Arm alles darauf Befindliche mit einem Wisch zu Boden. Er verharrte für einen Moment, bevor er sich schließlich über die ängstlich zusammengekauerte Nina beugte und beide Fäuste minutenlang wild auf ihrem zarten, zerbrechlichen Körper tanzen ließ. Erst als sie unter seinen zügellosen Schlägen ohnmächtig zusammenbrach, ließ er von ihr ab. Teuflisch grinsend schaute er auf die regungslos Daliegende herab, spie ihr verächtlich ins schmerzverzerrte Antlitz und stapfte dann polternd von dannen, durch die - sich vor ihm quietschend öffnende und hinter ihm wieder krachend ins Schloß fallende - Haustür hinaus ins Dunkel der Nacht.

Lukas aber beugte sich sofort ganz aufgeregt über das arg geschundene Opfer dieses Tieres, um nachzuschauen, ob Nina überhaupt noch lebte. Erleichtert stellte er dabei fest, daß sich ihr Brustkorb entgegen seinen schlimmsten Befürchtungen doch noch leicht hob und senkte. Was er tief in sich in diesem Moment spürte, aber war eine Mischung aus Zorn, Verzweiflung, Mitleid, Trauer und Hilflosigkeit. Und was er wollte, war nur noch eins ... weg von hier, schnell weg! Und dann möglichst rasch zurück in sein altes Leben, in dem es seine über alles geliebte Tochter Lisa endlich wieder gab und in dem seine Ex-Frau Nina mit ihr gemeinsam in London lebte, fernab von jenem Unmenschen, der sie über kurz oder lang mit Sicherheit totschlagen würde. Und so war Lukas Svensson es diesmal, der seinen rechten Zeigefinger ohne ein weiteres Wort entschlossen in den halbvoll abgestellten Wassereimer tauchte - worauf er mittels jener kühlen, klaren Flüssigkeit eine zaghafte 23 auf die Innenseite der knarrende Haustür zeichnete. Die Tür aber wurde ein weiteres Mal von einem weiß-blau-rot-schimmernden Licht überflutet. Und in eben diese strahlende Lichtflut stürzte sich Lukas nun hinein, und nach ihm dann auch sein Vater und seine Mutter ...

Türchen No. 23: Die Hoffnung stirbt zuletzt - BITTE ANKLICKEN!

Nie zuvor war es am Ende eines hell erleuchteten Zeitreisetunnels je so stockdunkel und eisig kalt gewesen wie dieses Mal. Lukas konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Nirgends war auch nur ansatzweise ein einziger Lichtfleck zu entdecken. Und da die Augen Lukas Svensson beim Erkunden seiner neuen Umgebung im Moment nicht weiterhalfen, bemühte er zu diesem Zweck eben kurzerhand die anderen Sinne. Seine gespitzten Ohren registrierten nichts außer einer beängstigenden Totenstille. Durch die Nase atmete der Ex-Inspektor einmal tief ein und stellte dabei zwei Dinge fest: Zum einen war die Luft sehr dünn und verbraucht, so daß sie kaum zum Luftholen reichte. Und zum anderen roch es eigenartig süßlich und gleichzeitig auch streng, so als würde hier irgendetwas herumliegen, das bereits im Prozeß der Verwesung begriffen war. Lukas machte vorsichtig ein paar Schritte vorwärts, wobei er erst einmal kurz mit seiner Mutter zusammenstieß und dann etwa 20 Schritte weiter auf etwas metallisch Klingendes. Die große, rechteckige Metallplatte, die Lukas ertastete, war höher und breiter als er selbst und innerhalb der sie umgebenden Wand in eine Art Rahmen eingelassen - eine Stahltür, wie Lukas vermutete. Den runden Türknauf, den er beim Abtasten fand, konnte man nicht drehen, so daß sich jene Tür von innen her nicht öffnen ließ. Er machte auf dem Hacken kehrt und ging nun etwa 50 Schritte in die entgegengesetzte Richtung, bis er abermals an einer Wand anlangte. Auch hier kehrte er wieder um und ging zirka 30 Schritte bis zu seinem vermeintlichen Ausgangspunkt zurück, wo er sich um 90 Grad nach links drehte und in der dadurch eingeschlagenen Richtung weiterlief - etwa 20 Schritte, bis ihn zum dritten Male eine undurchlässige Mauerwand stoppte. Auch diesmal kehrte er auf der Stelle um und schritt dann noch 40 Schritte in entgegengesetzter Richtung, wo er über etwas Großes, am Boden Liegendes stolperte. Lukas ging kurz in die Knie und untersuchte, was ihn hier fast zu Fall gebracht hätte.

Dabei registierte sein Geruchssinn, daß er sich genau an jenem Punkt befand, von dem der süßliche Verwesungsgeruch ausging. Langsam tastete der Ex-Inspektor mit ausgestrckten Händen seine Umgebung ab. All das, was er dabei in die Finger bekam, aber ließ in ihm rasch einen schrecklichen Verdacht aufkeimen. Der zunächst erfühlte Stoff, der das Darunterliegede in teilweise mehreren Schichten bedeckte, und auch die ertastete eiskalte, unbeharrte Haut waren doch schon recht eindeutig. Aber spätestens, als Lukas Svensson dann am oberen Ende ein langes Haarbüschel in Händen hielt, bestand für ihn kein Zweifel mehr daran, daß es sich bei seinem Fundstück um einen Menschen handelte. Präziser gesagt hatte es sich wohl um einen Menschen gehandelt, denn es waren keinerlei Vitalzeichen an dem vollkommen unterkühlten Körper festzustellen. Wie schon so oft zuvor in seiner beruflichen Tätigkeit hatte es der Ex-Inspektor also hier mit ziemlicher Sicherheit mit einem menschlichen Leichnam zu tun - der bisher ertasteten Anatomie nach zu urteilen mit dem einer Frau. Mehr war im Augenblick einfach nicht festzustellen, denn für eine genauere Untersuchung wäre zumindest ein bißchen Licht notwendig gewesen.

Vater Svensson tastete sich inzwischen von hinten langsam an seinen Filius heran und flüsterte: "Ich glaube, da kann ich Dir behilflich sein, mein Junge! Auch wenn ich mir nicht so ganz sicher bin, ob Du das wirklich willst. Unser himmlischer Boß hat da so einen bestimmten Spruch, mit dem er schon vor Urzeiten Licht ins Dunkel zu bringen vermochte. Vielleicht klappt der, wenn ich ihn ganz lieb darum bitte, ja auch bei mir". Mit diesen Worten senkte Joseph Svensson den Kopf und faltete seine Hände andächtig vor der Brust. Er murmelte leise etwas, was Lukas nicht verstand - das aber wohl auch für die Ohren eines ganz anderen bestimmt war. Den Abschluß jenes leisen Murmelns jedoch bildete das deutlich ausgesprochene Wort "Amen", welches aus der unverständlichen Murmelei ein stillen Gebet werden ließ. Dann hob Vater Svensson beide Hände zum Himmel empor und sprach: "Es werde Licht!". Und - welch Wunder - es ward Licht. Obwohl: So ein großes Wunder war das nun auch wieder nicht, denn die zuvor von Lukas ertastete Stahltür wurde just in diesem Moment ganz langsam und dennoch geräuschvoll aufgeschoben. Sie ließ dabei neben Unmengen herrlich frischer Luft auch einen faden Lichtschein in den Raum eindringen. In diesem Licht tauchten zwei kleine, unscheinbare Gestalten im größer werdenenden Türspalt auf - offensichtlich Kinder. Denn eine der Gestalten raunte sogleich mit knabenhafter und etwas furchtsam anmutender Stimme seinem Begleiter zu: "Puh, wie das hier stinkt! Mischa, ich glaube, wir sollten lieber wieder umkehren! Hier ist es irgendwie unheimlich!". Die andere Gestalt, ebenfalls ein Junge, lachte laut und sprach: "Timur, Du alter Angsthase! Und so etwas will ein Mann sein und der Leiter von unserem Trupp?! Weißt Du, was Du bist? Ein Mädchen bist Du!". Für einen Jungen in Timurs Alter, welches Lukas etwa auf 14 Jahre schätzte, war die Bezeichnung als Mädchen natürlich die schlimmste Beleidigung schlechthin. Entsprechend erbost reagierte der Beschimpfte: "Bin ich nicht! Und das beweise ich Dir!". Timur trat diesen Beweis auch sofort an - und das im wahrsten Sinne des Wortes, indem er mit seinem Fuß die schwere Stahltür entschlossen auftrat. Den Schmerz, den dieser Gewaltakt in seiner Fußspitze verursachte, unterdrückte er dabei tapfer und begab sich mit stolz geschwellter Brust erhobenen Hauptes ins - trotz der nun weit offenstehenden Tür - immer noch recht finstere Innere des Raumes. Sein Freund Mischa aber folgte seinem Vorbild, wenn auch gleich ein wenig zögernd, nach.

Lukas löste seinen Blick für einen Moment von den beiden Jungen und schaute vor sich auf den schummrig beleuchteten Boden. Darauf zeichneten sich nun langsam schemenhaft die Konturen des eben ertasteten Körpers ab, so daß Lukas jetzt erkennen konnte, daß er mit all seinen Vermutungen richtig gelegen hatte. Tatsächlich lag da vor ihm auf dem Bauch eine - für die Umgebungstemperatur viel zu leicht angezogene - tote Frau mit einem kurzen Rock und einer hellen Stoffjacke bekleidet. Das schulterlange rotblonde Haar baumelte ihr vom Hinterkopf strähnig herab und bildete dabei um das verdeckte, komplett dem Boden zugewandte Gesicht einen fast kreisrunden Kranz.

In diesem Moment war auch der Knabe Timur forschen Schrittes an jener Stelle des Raumes angelangt und stolperte nun, den Blick immer noch stolz in die Höhe gerichtet, über die am Boden liegende Leiche. Er schlug der Länge nach hin, wobei sein Körper mit dem der Toten gleichsam ein Kreuz zu bilden schien. Nur langsam erhob der Junge sich wieder. Dabei bemerkte er, daß aus seiner Nase Blut tropfte, wobei er lauthals fluchte: "Verdammter Mist! Ich blute! Und ganz dreckig bin ich auch!". Er klopfte mit den Händen seine Kleidung ab, zog dann einen seiner dicken Fingerhandschuhe aus und wischte sich mit einem aus der Hosentasche gezogenen Stofftaschentuch die Nase ab. Als er sein blutbeflecktes Taschentuch wieder einstecken wollte, entglitt es seinen frierenden Fingern und segelte unvermittelt auf den Boden. Erst jetzt, als der Junge sich bückte, um das Tuch aufzuheben, nahm er den wahren Grund seines Sturzes wahr. Aufgeregt rief er nach seinem Freund, der in einiger Entfernung stand und neugierig zu Timur herüber äugte: "Mischa! Mischa! Sieh nur! Hier liegt ja eine Leiche!". Mischas Augen wurden groß, und mit dem Ausdruck blanken Entsetzens im Gesicht flüchtete der Junge ohne ein weiteres Wort Hals über Kopf durch die offene Stahltür. Timur aber schüttelte sein Haupt: "Na, wer von uns Beiden ist denn nun hier der Angsthase, hä?!".

Dann wandte er sich wieder der Toten vor seinen Füßen zu und begann - scheinbar völlig furchtlos - ihren Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, um ihr Gesicht sehen zu können. Timur erschrak beim Anblick der recht entstellten Gesichtszüge der Frau und legte den Kopf recht schnell wieder ab, wobei das Gesicht der Toten nun allerdings deutlich erkennbar zur Wand hin gerichtet lag. Zu sich selbst flüsterte der Junge dann noch: "Bosche moj, das muß ich melden! Sofort bei der Miliz melden muß ich das!". Dann stand er auf und verließ ebenfalls schnellen Schrittes den Raum. Die Tür aber vergaß er - allein den Gedanken an das Melden seines grausigen Fundes im Kopf - hinter sich zu schließen. Lukas trat derweil ein zweites Mal ganz dicht an die Tote heran und schaute ihr nun ins aschfahle Antlitz. Dabei schreckte er umgehend zurück und wurde nun selbst leichenblaß im Gesicht. Seinen Eltern zugewandt aber schrie er, Ohnmacht und Zorn in seiner Stimme vereinend: "Dad! Mum! Sagt, daß das nicht wahr ist! Nein, sie ist es nicht! Das laß ich nicht zu, daß sie das ist! Nicht auch noch sie! Das dürft Ihr mir nicht antun! Ich flehe Euch an, bei allem, was mir heilig ist!". Sturzbäche dicker Tränen rannen ihm bei diesen Worten über die ergrauten Wangen und fielen von dort aus unablässig tropfend zu Boden. Lukas warf sich mit dem Oberkörper flehend in den Staub des verschmutzten Betonbodens und schrie: "Yelena! Liebste Yelena, Du darfst nicht tot sein! Mutter, Vater, laßt diesen Kelch bitte an mir vorbeigehen!". Einmal mehr war es Mutter Svensson, die neben ihrem am ganzen Leibe zitternden Sohn niederfiel und ihn - seinen Körper liebevoll an sich ziehend - zu stützen und aufzurichten suchte. Dabei hauchte sie schluchzend: "Oh, Lukas, mein Lieber! Ja, leider Gottes, sie ist es. Ohne Dich war Yelena nunmal dem sicheren Tode geweiht. Nach ihrem plötzlichen spurlosen Verschwinden glaubte man in ihrem Umfeld und bei der Reinigungsfirma einhellig, sie sei einfach überstürzt wieder nach Rußland zurückgekehrt, so wie es einige ihrer Landleute jedes Jahr tun. Niemand suchte nach ihr! Niemand ahnte auch nur im Geringsten, daß etwas - beziehungsweise jemand - ganz anderes dahinterstecken könnte und daß ihr Fortgehen unter Umständen keineswegs freiwillig geschah. Und so fand sie schließlich hier in diesem finsteren Verließ den Tod, einsam und mutterseelenallein - gefunden erst Wochen später am heutigen Tage vor Heiligabend von zwei spielenden Jungen. Du aber, mein Sohn, hast es nun in Deiner starken Hand, sie vor ihrem schrecklichen Schiksal zu bewahren! Setze all Deine Kraft daran, sie zu suchen und zu finden! Und setze Dein Leben für das ihre ein! Dann, und nur dann, werden diese schrecklichen Bilder hier niemals Wirklichkeit werden!".

Vater Joseph aber trat zu seiner Familie hinzu, legte jeweils eine seiner beiden starken Hände auf die Schultern seiner Frau und seines Sohnes, und sprach: "Erinnerst Du Dich noch an den Grabspruch jenes Herrn Marx, Lukas?! Es kommt darauf an, die Welt zu verändern! Wir haben Dir in den vergangenen Tagen gezeigt, wie sehr Du die Welt um Dich herum durch Deine bloße Existenz bereits verändert hast. In Deiner Hand liegt es, auch das hier zu verändern!". Und mit diesen Worten zog er aus der Innentasche seiner Anzugjacke, welche sich direkt über dem Herzen befand, eine Fotografie heraus und reichte sie seinem, immer noch unbändig weinenden Jungen. Lukas erhob sich langsam und löste sich dabei aus der Umarmung Marias. Auf wackligen Beinen nahm er zögernd das Foto aus den Händen Josephs entgegen. Dabei hielt er es wie einen gefährlichen Fremdkörper zwischen zwei Fingerspitzen fest. Er vermied tunlichst, es sich anzuschauen und fragte stattdessen mit zittriger Stimme seinen, mit gesenktem Blick vor ihm stehenden Vater: "Dad, was hat es mit diesem Bild auf sich?". Joseph Svensson hob den Blick langsam wieder und schaute seinem Lukas tief und fest in die Augen, während er erwiderte: "Das ist ein Bote der Zukunft, der möglichen näheren Zukunft dieses unheilvollen Tages hier. Es ist eine Aufnahme, die am späten Silvesterabend des Jahres 2009 auf einem Friedhof hier in der Nähe entsteht. Sie zeigt nur einen einzigen Grabstein mit einem Namen und den dazugehörigen Daten: Ort und Datum der Geburt, den Ort des Todes, welcher diesem Ort hier entspricht, und anstelle der nicht exakt festzustellenden, wahren Todeszeit den Zeitpunkt des Auffindens der Leiche, welcher sich mit dem heutigen Datum deckt. Der Name auf dem Stein aber lautet ...". Lukas' Hände knüllten bei diesen Worten seines Vaters das Foto zusammen, während sie sich gleichsam zu Fäusten ballten. Sein Gesicht aber begann, rot zu glühen. Schließlich trommelte er mit beiden Fäusten wie wild gegen seine Ohren und schrie dabei: "Nein, ich will das nicht hören, und ich will das auch nicht sehen!". Und mit dem letzten Teil seines verzweifelten Aufschreis ließ er das zusammengeknüllte Foto mitsamt der rechten Faust in seiner Manteltasche verschwinden.

Besorgt schauten Mutter und Vater Svensson auf ihren zutiefst betroffenen Sohn, der vor ihren Augen - am ganzen Leib zitternd - um Wiedererlangung seiner verlorengegangenen Fassung bemüht war. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er sich wieder ein wenig gefangen hatte. Schluchzend trat er dann einen Schritt auf seine Eltern zu und stammelte: "Verzeiht bitte! Ich war ganz außer mir! Ich wollte Euch nicht erschrecken, aber das hier ist einfach alles so schlimm für mich! Wißt Ihr, ich möchte jetzt endlich wieder nach Hause und mich dann umgehend auf den Weg machen, um meine Yelena zu suchen. Und ich verspreche Euch, ich werde sie finden! Und ich werde all das hier zu verhindern wissen, so wahr mir Gott helfe!". Überglücklich drückte Maria Svensson ihrem Sohn einen Kuß auf die Stirn: "Ja, mein Liebling, ich weiß, daß Du das tun wirst! Ich liebe Dich, Lukas!". Vater Joseph bekräftigte durch ein stummes Nicken - auch was seine Person betraf - die zuletzt getroffene Aussage seiner Gattin. Dann aber sprach er: "Eine einzige kleine Station steht zum Abschluß unserer Reise noch an. Eine, die Dir noch ein letztes Mal eine wichtige Lektion mit auf den Weg geben will und die Dir die letzte Deiner - bei unserem ersten Erscheinen - gestellten Fragen beantworten wird. Was Du jetzt noch erfahren sollst, ist, wie es Deiner Mutter und mir ergangen wäre, wenn Du niemals geboren worden wärst. Und Du sollst dabei erkennen, daß ein unabwendbares Schicksal sich allenfalls aufschieben, aber niemals verhindern läßt".

Joseph Svensson nahm seine Maria liebevoll in den Arm und ging mit ihr raschen Schrittes auf die Stahltür zu, die unter dem trostlosen Schwarz ihres Farbanstrich bereits abwechselnd nahezu weihnachtlich in Rot und Gold zu blinken begonnen hatte. Lukas aber warf über die Schulter hinweg noch einmal einen flüchtigen Blick auf den am Boden liegenden Schatten jener unheilvollen Zukunftsvision, die er jetzt rasch wieder aus seinem Kopf zu verdrängen suchte, während er - in einem Anflug von frisch aufkeimender Hoffnung - in das vorweihnachtliche Leuchten der offenstehenden Tür einging ...

Türchen No. 24: Auf der Flucht - BITTE ANKLICKEN!

Ein großer, menschengefüllter Platz empfing die Svenssons am Ausgang des hellichten Zeittunnels, in dessen Innerem Lukas und seine Eltern ein zweites Mal statt weniger Sekunden mehrere Minuten zugebracht hatten, wenn auch gleich insgesamt nur etwa halb so lang wie bei ihrem Ausflug nach Rußland. Lukas überlegte einen Moment, was diese Reisedauer bezüglich des Ortes bedeuten könnte, an dem sie sich hier befanden. Dann aber schaute er sich in seiner neuen, schummrigen Umgebung um, und erkannte nach wenigen Sekunden ein hell erleuchtetes Gebäude wieder, welches er schon vor fast 65 Jahren - wie auch heute - mit seinem Vater und seiner Mutter zusammen besichtigt hatte, wenngleich es auch damals noch mehr oder weniger in Schutt und Asche lag. Heute erstrahlte es hingegen in neuem alten Glanz und hatte noch dazu eine riesige gläserne Kuppel aufgesetzt bekommen. Wehte beim ersten Besuch hier noch die sowjetische Flagge, so war es heute eine gänzlich andere, die dort oben im kühlen Wind flatterte. Nur eines war damals wie heute gleich: Jene Widmung, die über dem Eingangsportal in den Stein gehauen war: "DEM DEUTSCHEN VOLKE". Das Gebäude, vor dem die Svenssons hier standen war der Berliner Reichstag - gewidmet jenem deutschen Volke, zu dem auch sie einst gezählt hatten, bis sie aus der seinerzeit zweigeteilten Republik ins Vereinigte Königreich England übergesiedelt waren.

Auf dem Platz vor dem Gebäude standen mit Lukas und seinen Eltern schätzungsweise 500 weitere Menschen. Sie waren allesamt warm in Mäntel, Mützen, Schals und Handschuhe verpackt, obwohl Lukas nach seinem frostigen Rußlandabstecher die Witterung hier geradezu als mild empfand. Alle redeten kreuz und quer durcheinander, so daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Über ihnen am klaren Himmel wurde es zusehends dunkler, wobei die Sichel des aufgehenden Halbmondes in gleichem Maße immer heller hervortrat. Die tausenden und abertausenden Sterne aber bildeten am Himmel in Lukas Phantasie eine riesige Kuppel - wie die des Reichstags oder aber die eines Kirchendoms. Lukas löste sich vom Anblick des imposant funkelnden Himmelsgewölbes und schaute wieder zur Treppe des Reichstags herüber. In deren Mitte war auf einer der oberen Stufen ein Mikrofon aufgestellt, an das in diesem Moment ein Mann mit einem schwarzen Umhang herantrat. Und seinen weißen Kragen noch einmal richtend, klopfte er zaghaft mit dem Zeigefinger dreimal auf die Spitze des Mikrofons. Das Klopfgeräusch ertönte dabei vielfach verstärkt über den ganzen Platz, ebenso wie die Worte, die der schwarzgekleidete Mann an die plötzlich mucksmäuschenstille Menschenmasse richtete: "Guten Abend, meine lieben Freunde! Ich bin Pastor Schindler von der hier ganz in der Nähe in Hennigsdorf ansässigen Forumsgemeinde 24. Als man mich vor wenigen Wochen bat, hier heute unter freiem Himmel am Heiligen Abend einen Gedenkgottesdienst für die an der Berliner Mauer zu Tode gekommenen Opfer abzuhalten, überlegte ich zunächst ein wenig und sagte dann aber umso entschiedener zu. Und dafür, liebe Anwesende, gibt es einen guten Grund: Ich habe nämlich darüber nachgedacht, ob sich so eine Veranstaltung in den Kontext des Heiligen Abends überhaupt einfügen läßt. Die Antwort aber ist ein ganz klares Ja! Denn an diesem Heiligen Abend erinnern wir uns wie jedes Jahr gemeinsam mit den Christen aller Welt der Geburt eines ganz besonderen Kindes".

Bei dem letzten Satz des Geistlichen schauten sich Maria und Joseph gleichzeitig tief in ihre feuchtwerdenden Augen, dann wanderte ihr Blick auf den zwischen ihnen stehenden Lukas, und Vater Svennson bemerkte: "Ja, die Geburt eines ganz besonderen Kindes. An die erinnern auch wir uns heute, Deine Mutter und ich". Und mit einer verstohlenen Träne im Auge zog er den Kopf seines Sohnes ganz dicht an sich heran und streichelte ihm übers schütter gewordene Haupthaar.

Pastor Schindler hatte fernab auf der Reichstagstreppe unterdess sein handgeschriebenes Redemanuskript umgeblättert und fuhr nun fort im Text seiner Predigt: "In einem Stall in Bethlehem wurde Maria und Josef ein Sohn geboren, den sie Jesus nannten, so wie es Maria zuvor ein Engel im Traum befohlen hatte. Dieser Jesus aber, geboren von der Jungfrau Maria, war nicht der Sohn des Zimmermanns Josef aus Nazareth, sondern Gottes Sohn - in Armut zur Welt gekommen, um die Menschheit aus ihrer sündhaften Gottverlassenheit zu retten und ihnen dadurch ewiges Leben an der Seite ihres Schöpfers zu ermöglichen. Fremde kamen daraufhin von nah und von fern zu der Krippe, um das Wunder von Bethelehem zu sehen, geleitet von Engeln und einem über alle Maßen hell leuchtenden Stern, der ihnen den rechten Weg wies. Alsbald aber schon wurde es gefährlich für den gerade erst auf die Welt gekommenen Gottessohn und seine Eltern, und sie sahen sich gezwungen zu fliehen - zu fliehen in ein fremdes Land zum Schutz ihres eigenen Lebens und vor allem zum Schutz ihres Sohnes. Hier aber nun finden wir eben jene Parallele zwischen der biblischen Geschichte Jesu Christi und der jener Menschen, derer wir heute gemeinsam an dieser geschichtsträchtigen Stätte nahe dem Ufer der Spree gedenken wollen. Kaum hundert Meter von hier entfernt teilte noch bis vor 20 Jahren eine riesige Mauer Ost von West, und damit Menschen von Menschen. Und einige der Menschen im ideologisch vermauerten Ostteil unseres Landes empfanden irgendwann die Einschränkung ihrer Freiheit als ebenso lebensbedrohlich wie einst vor ihnen Josef und Maria ihre Situation. Und so machten auch sie sich - oftmals ebenso heimlich über Nacht - mit wenigen Habseligkeiten im Koffer auf den Weg über die stark gesicherte Grenze hinweg in die Freiheit. Dabei hieß ihr rettender Zufluchtsort anstelle Ägyptens dann eben Westberlin oder Westdeutschland. Vielen von ihnen glückte - wie auch der Heiligen Familie einst - die gefährliche Flucht, aber einige von ihnen bezahlten ihr Verlangen nach Freiheit mit dem Leben".

Wieder blätterte der Geistliche seine Redenotizen um, wobei sich Maria und Joseph Svennson erneut in die glänzenden Augen schauten und dann gemeinsam den Blick zum Boden senkten, sich nahezu zeitgleich vor der Brust bekreuzigend. Lukas starrte dabei ein wenig unverständig auf sie. Was hatten die Beiden denn plötzlich? Warum wurden sie denn so traurig? Ihnen Dreien war die Flucht in den Westen doch geglückt, und das noch lange vor der gewaltsamen Befestigung jener innerdeutschen Grenze im August 1961. Ehe er weiter darüber nachsinnen konnte jedoch, riß ihn die wiederaufflammende Rede des Hennigsdorfer Pastors aus seinen Gedanken:

"Alle Opfer dieser unheilvollen Grenze beim Namen zu nennen, würde sicher den Rahmen unserer zeitlich begrenzten Andacht hier sprengen. Und so habe ich mir nach eigenem Ermessen stellvertretend drei von ihnen herausgegriffen, deren Schicksal seinerzeit für Schlagzeilen sorgte und daher schon damals die Menschen besonders berührte. Da ist zum einen ein 18jähriger Maurergeselle mit Namen Peter Fechter, der am Nachmittag des 17. August 1962 mit seinem Freund und Arbeitskollegen Helmut Kulbeik in der Nähe des damaligen allierten Checkpoint Charlie versucht, die Mauer zu überwinden. Seinem Freund gelingt dies auch, aber Peter Fechter wird ohne Vorwarnung von den Schüssen dreier Mauerschützen getroffen und fällt dadurch von der Mauer herunter in den Ostberliner Todesstreifen zurück. Hier schreit er schwerverwundet um Hilfe, doch diese bleibt ihm versagt. Weder die DDR Grenzpolizisten noch die Westberliner Beamten oder die alliierten Soldaten können sich in dieser angespannten Situation zu einem Eingreifen durchringen. Unterdessen aber vergeht ungenutzt eine ganze lange Stunde, in der Peter Fechter qualvoll verblutet. Erst jetzt begibt man sich von Ostberliner Seite zu ihm und entfernt den Toten aus dem Sperrgebiet. Auch auf seine Familie hat Peter Fechters Ermordung schlimme Auswirkungen. Sein Vater stirbt verbittert, die Mutter wird psychisch krank. Noch Jahrzente lang wird die ganze Familie Fechters von den Behörden der DDR schikaniert. Immer wieder werden sie überwacht, ihre Wohnung durchsucht, und über einzelne Familienmitglieder wird zeitweise ein Berufsverbot verhängt".

Lukas' Gedanken kreisten, während Pastor Schindler ein weiteres Mal umblätterte, um die eben gehörte, zu Herzen gehende Geschichte. So dicht lagen eben manchmal Glück und Unglück, Leben und Tod beieinander - waren oft nur Zentimeter oder Sekunden voneinander entfernt, so wie Peter und sein Freund Helmut an jenem Augusttag auf der Krone der Berliner Mauer. Wer weiß schon, dachte Lukas dabei, wie es ihm und seinen Eltern ergangen wäre, wenn sie nicht schon 1953 den Weg in den Westen gewagt hätten. Was alles hätten sie wohl erdulden müssen, wie wäre es ihnen nach der Einmauerung 1961 ergangen? Hätten sie vielleicht dann auch einen Fluchtversuch unternommen? Und wenn ja, wäre es ihnen dann eher wie Helmut oder aber wie Peter ergangen? Einmal mehr riß ihn die mikrofonverstärkte Stimme des Pastors aus seinen Überlegungen:

"Das Schicksal Peter Fechters macht betroffen, auch heute noch - mehr als 47 Jahre nach seinem qualvollen Ende. Ebenso betroffen aber hat mich auch das zweite Schicksal gemacht, das ich hier stellvertretend für all die anderen anführen möchte. Die Tragödie zweier Menschen beginnt in den Abendstunden des 24. Dezember 1972, an dem sie beschließen, die Spree zu durchschwimmen und so aus dem Ostteil Berlins in den Westteil der Stadt zu gelangen. Die Beiden, ein kinderloses Ehepaar aus Friedrichshain, sind in dem eisigkalten Wasser unentdeckt schon bis zur Mitte des Flusses gelangt, als sie plötzlich vom Scheinwerfer einer DDR Grenzpatrouille erfaßt werden. Einer der Grenzsoldaten gibt daraufhin zunächst einen Warnschuß in die Luft ab. Als die zwei Flüchtigen jedoch nur unso eifriger in Richtung Westen weiterpaddeln, schießt der Grenzer gezielt und trifft dabei die etwas hinter ihrem Mann zurückgebliebene Frau in den Rücken. Der Schuß muß scheinbar das Rückgrat verletzt haben, denn die Frau kann sich mit einem Male nicht mehr bewegen und droht - laut um Hilfe rufend - unterzugehen. Ihr Mann, den nur noch wenige Meter vom rettenden westlichen Ufer trennen, kehrt ohne zu zögern um und versucht, seine Frau aus den eisigen Fluten der Spree zu retten. Während dieses Unterfangens trifft ihn eine zweite Kugel in den Kopf, die ihn sofort tötet. Gemeinsam aber - Hand in Hand - sinken die Eheleute bis tief auf den Grund des Flusses, wo ihre Leichen im darauffolgenden Frühjahr zwar mehrfach stundenlang mit einem Großaufgebot an Tauchern gesucht, aber nie gefunden werden. Noch wochenlang geht das Schicksal der beiden Liebenden, die lieber vereint sterben als voneinander getrennt leben wollten, durch die Presse. Und heute erinnert wie auch an den getöteten Peter Fechter ein Kreuz hinter dem Reichstagsgebäude nahe dem Ufer der Spree an die Zwei ... Maria und Joseph Svensson. Im Gedenken an sie und alle anderen Maueropfer lassen Sie uns nun gemeinsam das bekannteste Weihnachtslied der Welt anstimmen: 'Stille Nacht, Heilige Nacht'".

Und während aus rund 500 Kehlen die wundervolle, anrührende Melodie jenes deutschsprachigen Weihnachtsklassikers erklang, verstand nun auch Lukas endlich die Traurigkeit, die seine Eltern beim Verlesen der gescheiterten Fluchtversuche befallen hatte. Alle in ihm aufkeimenden Fragen nach dem Warum des elterlichen Schicksals aber beantwortete ihm nun Mutter Maria, indem sie ausführte: "Tja, Lukas, da Du nie geboren wurdest und Dein Vater und ich auch sonst keine Kinder hatten, gab es 1953 für uns noch keinen ausreichenden Grund für eine Flucht in den Westen. Auch in den Jahren danach trösteten wir uns bei allen Schwierigkeiten, die wir im Osten hatten, mit der Hoffnung, alles würde bestimmt bald besser werden. Dann kam der 13. August 1961, und plötzlich waren die Grenzen dicht. Das ließ uns natürlich erst recht vor jedem Fluchtgedanken zurückschrecken. Wir arrangierten uns schließlich, wie so viele, immer mehr mit den beschränkten Freiheiten in der DDR. Alles änderte sich jedoch, als im Januar 1972 ein enger Arbeitskollege Deines Vaters, ein Lokomotivführer namens Lukas Knopf, bei Nacht und Nebel nach Westdeutschland verschwand. Von jenem Tage an klingelte es zwei bis drei Mal wöchentlich zu jeder erdenklichen Tageszeit und selbst bei Nacht an unserer Wohnungstür, worauf sich ein paar Herren in langen Mänteln mit Dienstausweisen des Ministeriums für Staatssicherheit mehr oder minder gewaltsam bei uns Einlaß verschafften. Innerhalb von 30 bis 60 Minuten stellten sie uns dann die ganze Wohnung auf den Kopf stellten. Anschließend nahmen sie dann mal Deinen Vater, mal mich und mal auch uns alle Beide mit in ihre Dienststelle, wo sie uns stundenlang verhörten, beschimpften und zwischendurch auch hin und wieder schlugen. Auf die Dauer drohte uns dieser Terror zu zerbrechen. Wir waren seelisch und körperlich schon fast am Ende, als wir uns schließlich zur Flucht entschlossen. Unsere Bewacher hatten wir durch ein ausgeklügeltes, geradezu patentverdächtiges automatisches Ein- und Ausschaltsystem Deines Vaters für die Wohnungsbeleuchtung erfolgreich abgelenkt und waren dann über die Hintertreppe unseres Mietshauses geflüchtet. Wie unsere Flucht schließlich endete, hast Du ja gehört!

Lukas sah seine Mutter und seinen Vater traurig an: "Ihr wärt also auch ohne meine Exixtenz gewaltsam zu Tode gekommen, wenn auch erst Jahre später". Und Vater Svensson ergänzte: "Ja, und das waren traurige und leere, am Ende sogar qualvolle Jahre. Kein Kinderlachen erhellte die Wohnung. Jeder einzelne Tag war einzig und allein vom Wechsel von Arbeit und Erschöpfung geprägt. Ständige Geldsorgen machten uns das Leben schwer. Ohne Dich war unser Leben ein einziges, künstlich in die Länge gezogenes Trauerspiel mit einem tragischen Ende!". Aber nun laß uns das Mal für einen Augenblick vergessen und weiter dem Herrn Schindler lauschen. Ich mag seine Art, mit Worten zu spielen und zu jonglieren und damit in den Köpfen seiner Zuhörer Bilder zu erschaffen - grandiose, gewaltige Bilder, die malerischen Kunstwerken oft in nichts nachstehen". Der von Joseph Svensson so fast bis in den Himmel hochgelobte Pastor setzte unterdess zum Ende seiner Ansprache an:

"Liebe Freunde, bevor wir uns nun gemeinsam zu einer Gedenkminute hinter dem Reichstag an den dort aufgestellten Gedenkkreuzen für die Maueropfer begeben, möchte ich es nicht versäumen, uns allen ein Frohes und gesegnetes Weihnachtsfest 2009 zu wünschen. Mögen die festlichen Tage uns das Herz weit machen und uns dankbar werden lassen, für alles, was wir Tag um Tag an Freude, Glück und Liebe, an Freiheit und Frieden aus den Händen unseres Schöpfers empfangen! Strecken auch wir nach diesem Vorbild unsere helfenden Hände aus, woimmer wir Menschen in Not antreffen, die unserer Hilfe bedürfen!"

Wieder mußte Lukas an seine Yelena denken, die irgendwo draußen in der zurückgelassenen realen Welt seine Hilfe bitter nötig hatte, während er sich mit seinen Eltern und allen den anderen Menschen zu dem als Denkmal hinterm Reichstag aufgestellten Mauerstück mit den daran befestigten Gedenkkreuzen begab. Lukas und seine Eltern waren die Ersten, die dort anlangten, und es dauerte ein wenig, bis alle anderen nachgerückt waren, unter ihnen auch Pastor Schindler. Lukas nutzte die Zeit, die Namen auf den Kreuzen ein wenig genauer zu betrachten: Da waren neben dem erwähnten Peter Fechter auch noch ein gewisser Peter Schwarzer und dann eben auch die Kreuze von Maria und Joseph Svensson, zwischen denen der inzwischen eintreffende Geistliche nun drei rote Rosen niederlegte. Es folgte eine Schweigeminute und anschließend noch eine kurze Gedenkansprache des Pastors: "Wir gedenken an dieser Stelle neben den Maueropfern auch all der Toten, deren schmerzlichen Verlust wir zu betrauern haben".

Lukas aber dachte dabei an Sergeant Phillip Young, Jack Holmes, Premierminister Charles Wannabe und seine Frau Britney, die Königin der Herzen und deren Lebensgefährten sowie an seine Eltern Maria und Joseph, um die er gleichzeitig liebevoll seine Arme legte.

Pastor Schindler sprach unterdess: "Wir gedenken auch der Menschen, die an den äußeren Umständen innerlich zerbrachen, und all derer, die eingesperrt sind oder Folter und Leid ertragen müssen und dabei die Rückkehr in ein besseres Leben herbeisehnen!"

Hier erinnerte sich Lukas an Cathrin Napolitani und ihre Freundin Jane, Francesca Scampi, Carla O'Brian, Ex-Yardchef Harold Freakadelly, Frank Gumble, Yusuf Kebab und nicht zuletzt an seine Ex-Frau Nina Pjetschalowa, geborene Simowa.

Wieder ergiff der Geistliche das Wort: "Gedenken wir auch derer, denen die Flucht glückte, und die nun in ihrer neugewonnenen Freiheit ihr Glück suchen und hoffentlich auch finden mögen".

Diese Worte erinnerten Lukas Svensson an George Adams, Claudine Villfort, Tim Hackerman, Sabrina Meltstone sowie Claudia Palmer und Giovanni Brutallo.

Der Pastor fuhr indes fort: "Ganz besonders danken und beten wir für die Fluchthelfer und damit gleichzeitig für alle, die Menschen in Verfolgung und Not hilfreich zur Seite stehen!".

Lukas aber dachte dabei sofort an Alberto Scampi.

Seine Gedenkrede schloß der Geistliche nun mit den Worten:"Zuletzt bitten wir noch um Vergebung für die Mauerschützen und mit ihnen für all diejenigen, die durch ihr Handeln schwere Schuld auf sich geladen haben. Mögen Sie Vergebung bei Gott, vor sich selbst und auch bei den Angehörigen ihrer Opfer finden! Amen!".

Auch hier kamen Lukas Svensson wieder einige Gesichter in den Sinn, denen er auf seiner Reise begegnet war: Luigi Rigatoni, Derrik Crawler, Salvatore Spirelli und allen voran Vincenzo Makkaroni.

Pastor Schindler verabschiedete sich nun von jedem der Anwesenden noch persönlich mit einem Handschlag und ein paar segnenden Worten auf den Weg. Und mit der sich langsam auflösenden Menschenmenge schlenderten auch die drei Svenssons bedächtigen Schrittes von dannen in Richtung des unweit gelegenen Brandenburger Tores, welches - früher im Todesstreifen der Grenze eingeschlossen - nun als das Symbol der wiedergewonnenen Deutschen Einheit galt. Als sie direkt davor standen und Lukas den Blick nach oben auf die Quadriga mit ihrem Wagen richtete, da landete plötzlich etwas kleines Kaltes sanft auf seiner Stirn. Lukas fischte den winzigkleinen, weißen Fremdkörper mit der Fingerspitze des Zeigefingers herunter und besah ihn sich genau. Kein Zweifel, das war ein Schneekristall. Und wo so ein einzelner Schneekristall vom Himmel fiel, blieb er erfahrungsgemäß nicht lang allein. Wie als kleiner Junge streckte Lukas erwartungsvoll die Zunge aus dem Mund heraus und schloß die Augen. Es dauerte tatsächlich nur noch ein paar Sekunden, bis auch auf seiner Zunge ein solches kühles Schneesternchen landete, rasch gefolgt von einem zweiten und einem dritten. Lukas aber nahm sie durch blitzschnelles Wiedereinfahren seiner Zunge sogleich in seiner dunklen, warmen Mundhöhle gefangen, wo sie allesamt augenblicklich zerschmolzen. Und während Svensson junior den daraus entstandenen Wassertropfen herunterschluckte, rief er freudestrahlend: "Mama, Mama, schau nur! Es schneit!". Maria Svensson aber strich ihrem großen, kleinen Jungen liebvoll übers strahlende Gesicht und erwiderte: "Siehst Du, Lukas?! Der Himmel schenkt uns für unsere letzten gemeinsamen Stunden sogar noch eine Weiße Weihnacht!".

Lukas' Augen wurden mit einem Schlag traurig. Ja, daran hatte er in all seiner Freude über die ersten Schneeflocken gar nicht mehr gedacht! Sie waren ja jetzt am Ende ihrer Reise durch eine mögliche Zukunft ohne ihn angelangt. Nun hieß es also Abschied nehmen. Ein zweites Mal würde er seine Eltern verlieren, nur daß er diesmal besser darauf vorbereitet war. Mit gesenktem Haupt streckte er seinem Vater die Hand zum Abschied entgegen. Doch der buffte ihm nur leicht mit der Faust gegen den Oberarm und sprach: "Hey, Großer, so schnell wirst Du uns nun auch wieder nicht los! Unser himmlischer Boß hat uns noch bis morgen um Mitternacht Ausgang gegeben, und den nutzen wir jetzt erstmal noch für einen kleinen gemeinsamen Ausflug. Oder hast Du in Deinem Alter etwa keine Lust mehr, etwas mit Deinen Alten gemeinsam zu unternehmen?!". Als Antwort sprang Lukas seinem Vater ganz einfach um den Hals: "Und ob ich Lust hab! Also los, sagt schon, wohin geht's?". Maria, die inzwischen am Fuße des hell angestrahlten Brandenburger Tores mit ihrem Fingernagel eine kleine 25 in die dünne Schneeschicht gekratzt hatte, führte bedeutungsvoll den ausgestreckten linken Zeigefinger zum geschlossenen Mund und flüsterte dann: "Psst, das wird eine Überraschung! Und nun: 'Das Tor macht auf, die Tür macht weit'". Mit diesem Satz verschwand sie in einem grellen Lichtkorridor, welcher sich im selben Moment zwischen zwei der riesigen Säulen des Berliner Wahrzeichens gebildet hatte. Joseph aber ergriff blitzschnell die Hand seines Filius. Und während die Freiheitsglocke der Gedächtniskirche in weiter Ferne - und dennoch deutlich zu vernehmen - die Weihnacht einläutete, hüpften Vater und Sohn gemeinsam voller ungezügelter Vorfreude der soeben Entschwundenen nach ...

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Den hell leuchtenden Zeittunnel hatte die dreiköpfige Svenssonfamilie bereits einige Sekunden später wieder hinter sich gelassen, aber das Leuchten und Glitzern um Lukas und seine Eltern war geblieben. Überall rings um sie herum kündeten bunte Lichterketten und wunderschön geschmückte Fenster von der wunderbarsten Zeit im Jahr. Die Uhr am Roten Rathaus schlug zwölf Mal und verkündete damit den Anbruch des ersten Weihnachtsfeiertags. Auch Frau Holle schien in der Zwischenzeit recht fleißig gewesen zu sein, denn der Schnee bedeckte den gesamten Boden inzwischen mit einer zirka 20 Zentimeter dicken Schicht. Lukas schaute sich ein wenig um. Er war mit seinen beiden Eltern anscheinend direkt vor dem Eingang eines Weihnachtsmarkts gelandet, und das, wo Lukas alle Arten von Jahrmärkten seit frühster Kindheit doch so liebte. Leider war der Markt, der direkt am Alex - jenem zentral gelegenen Platz im Herzen der deutschen Hauptstadt - angrenzte, um diese Uhrzeit verständlicherweise geschlossen, was dem Munde des Ex-Inspektors einen kleinen traurigen Seufzer entlockte.

Seine Mutter aber streichelte ihm trostspendend über den Hinterkopf, während sein Vater sprach: "Keine Panik, Sohnemann! Erstens sind Deine Eltern Engel, und zum anderen ist Weihnachten! Wär doch gelacht, wenn man da in puncto Ladenschlußzeiten nicht was drehen könnte". Damit schnippste er einmal kurz mit seinen Fingern, und vor Lukas' staunenden Augen begann der Weihnachtsmarkt sogleich in den prächtigsten Farben zu erstrahlen. Wie von Geisterhand öffneten sich all die vielen Stände und Buden. Sämtliche Karuselle, die Geisterbahn und das gigantische Risenrad setzten sich in Bewegung. Hunderte Menschen fluteten augenblicklich die verschneiten Wege und Gassen dazwischen, und es begann aus allen Ecken und Winkeln nach Bratäpfeln, Mandeln, Zuckerwatte, kandierten Äpfeln, gerösteten Mandeln, Zimt und Anis sowie den verschiedensten anderen weihnachtlichen Gewürzen zu duften. Lukas aber konnte sich gar nicht satt sehen und riechen. Bedächtigen Schrittes machte er sich mit Maria und Joseph auf Entdeckungsreise. Und während der Schnee unter ihren Schritten knirschte, bestaunten die Drei all die Schaubuden mit den Leckereien und den kunstvollen Handarbeiten. An einem Glühweinstand verweilte Lukas ein wenig länger. Der Duft des weihnachtlichen Heißgetränks stieg ihm in die Nase und berauschte ihn ein wenig. Aber das war gar nicht schlimm, denn ein wenig Berauschtsein gehörte zu Weihnachen einfach dazu.

Irgendwann landeten die Svenssons bei ihrem Spaziergang über den Markt auch vor einem kleinen Karussell, das sich hell erleuchtet gemächlich im Kreise drehte. Etwa ein Dutzend Kinder saßen in den verschiedenen Fahrzeugen. Ein wenig gedankenversunken schaute Lukas ihnen zu, wie sie sich über das ganze Gesicht strahlend in ihrer Phantasie ausmalten, Astronauten, Feuerwehrmänner, reitende Indianer oder Steuermänner auf einem Schiff zu sein. Einzig und allein das Polizeiauto bewegte sich noch fahrerlos im Kreis. Es vergingen etwa vier Minuten, als das Fahrgeschäft mit all den Mitfahrgelenheiten plötzlich langsamer wurde und schließlich stoppte. Die Stimme seines Betreibers aber vermeldete schon Sekunden später über Lautsprecher: "Treten Sie näher, steigen Sie ein! Nur heute Nacht ist die Fahrt umsonst! Für jeden! Auch für den schnauzbärtigen Herrn im Trenchcoat dort drüben!". Lukas sah sich verwundert um. Er erblickte zwar jede Menge Leute in langen Mänteln und Anoraks, aber nirgends auch nur ansatzweise jemanden im Trechcoat - außer ihm selbst natürlich! Aber ihn konnte der Mann doch nicht meinen, er konnte ihn doch schließlich gar nicht sehen! Nein, das konnte nicht sein! Oder?!

Da trat seine Mutter zu ihm und flüsterte: "Doch, Lukas! Er meint Dich! Er kann Dich, Deinen Vater und mich genauso gut sehen wie jeder andere hier. Für unsere letzten gemeinsamen 24 Stunden wurden die sonst so strengen Regeln, was unsere Unsichtbarkeit angeht, nämlich extra ein wenig gelockert. Das ist sozusagen unser ganz spezielles Weihnachtsgeschenk für Dich. Und auch wenn es mit 54 Jahren Verspätung ankommt, so ist es dafür zum Glück doch noch nicht zu spät, oder?!". Lukas nickte begeistert, dann aber gab er erst seiner Mum und dann seinem Dad einen Schmatzer auf die Wange und rannte schließlich mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen direkt auf das immer noch leerstehende Polizeiauto des Karussels zu. Er wollte gerade einsteigen, als ein Vater mit seinem kleinen Töchterchen neben ihm zu stehen kam. Das kleine Mädchen aber raunte ein wenig enttäuscht: "Och, Papa, der Onkel war schneller als ich. Dabei wär ich so gern in dem Polizeiauto gefahren!". Tapfer versuchte das Mädchen, seine Tränchen zurückzuhalten, während sich ihr Vater neben sie kniete und ihr erklärte: "Da kann man nix machen, Laura! Komm mal, wir schauen, ob wir ein anderes Fahrzeug für meinen kleinen Schatz finden!". Der Vater, der Lukas übrigens irgendwie sehr ähnlich sah, war mit seiner Tochter an der Hand bereits im Gehen begriffen, als Lukas die Beiden zurückrief: "Moment mal! Wer wird denn so einen lieben, kleinen Mädchen schon einen Herzenswunsch abschlagen? Und dann noch an Weihnachten! Na komm schon, Laura, ich laß Dir den Vortritt. Ich wünsch Dir und Deinem Daddy Frohe Weihnachten!".

Lauras Vater aber bedankte sich mit Tränen in den Augen bei Lukas Svensson: "Danke! Sie bescheren mir und meiner Tochter damit ein unvergeßliches Fest. Wissen Sie, ihre Mutter und ich haben uns schon vor einigen Jahren getrennt. Und nun hab ich die Kleine, die so schnell größer wird, nur einmal im Monat für ein paar Stunden bei mir. Diese wenigen Momente möchte ich ihr dann natürlich eine schöne unbeschwerte Zeit bieten und ihr all ihre Wünsche erfüllen, soweit es in meiner Macht steht". Lukas verstand nur all zu gut, was Lauras Vater meinte. Ja, er fühlte in diesem Moment mit seinem Gegenüber sogar so etwas wie eine Seelenverwandtschaft - fast als wäre er ein Teil von diesem Mann. Und dabei dachte er gleichzeitig an seine eigene Tochter, die inzwischen schon erwachsen war, und dennoch für ihn immer sein kleines Mädchen blieb. Dann aber schauten die beiden stolzen Väter zu dem Karussell, das langsam an Fahrt gewann. Lukas sah das Lachen und die leuchtenden Augen Lauras, die in ihrem grünen Polizeiwagen ihre Runden drehte, und er sah sich im Spiegel dieser Kinderaugen selbst als kleinen Jungen am Lenkrad des Autos sitzen, in Gedanken bösen Verbrechern nachjagend.

Als das Karussell einige Minuten später wieder anhielt, sprang die kleine Laura freudestrahlend heraus. Und dem Ex-Inspektor um den Hals fallend, rief sie: "Das war sooo toll, Onkel! Danke, daß Du mich fahren lassen hast!". Und ihr überglücklicher Vater ergänzte: "Ja, das war wirklich ein schönes Geschenk! Ach, ich glaub, ich hab da auch was für Sie!". Damit griff er in die Tasche seines Anoraks und zauberte eine kleine Digitalkamera hervor. Er überreichte sie dem verdutzten Lukas und sagte: "Ich hab sie grad am Losstand gewonnen. Und als ich dem Losverkäufer sagte, ich hätte schon eine, da meinte er, ich solle sie einfach weiterverschenken an den ersten freundlichen Menschen, dem ich hier begegnen würde. Nun, das sind zweifellos Sie! Und irgendwas sagt mir, Sie werden sie heute noch gut gebrauchen können". Damit verabschiedeten er und seine Laura sich von "Onkel Svensson" und zogen von dannen. Lukas aber verstaute das unverhoffte Geschenk fürs erste in seiner linken Manteltasche. Dann gingen auch die Svenssons weiter. Sie machten noch an vielen Buden und Ständen halt, genehmigten sich gemeinsam Glühwein und Zuckerwatte, Bratäpfel und Lebkuchen, Zimtsterne und eine deftige Erbsensuppe, die fast so lecker schmeckte, wie jene, die Maria früher in Königsberg und später auch hier in Berlin für ihre Männer gekocht hatte.

So vergingen die Stunden wie im Fluge. Und die Abenddämmerung setzte schon ein, als die Drei an der Geisterbahn vorbeikamen. Maria und Josef schauten sich bei dem Anblick des gespenstischen Gebäudes, aus dem unheimliche Töne an ihr Ohr drangen, tief in die Augen. Dann mußten sie beide schmunzeln. Geisterbahn fahren?! Das mußte ja nun wirklich nicht sein! Schließlich verbrachten sie ab morgen in ihrem himmlischen Domizil eh wieder genug Zeit mit einer Unmenge von Geistern. Stattdessen steuerten sie entschlossen auf einen Stand zu, an dem man mit Gummibällen Buchsen umwerfen konnte und bei dem mit ein wenig Glück ein riesiger Teddy als Hauptgewinn lockte. Zuerst versuchte Maria ihr Glück. Alledings gingen ihre Würfe allesamt mehr oder weniger daneben. Joseph war da deutlich erfolgreicher. Er traf stets ins Schwarze und räumte mit seinen drei Würfen alle Büchsen ab. Der Budeninhaber nickte anerkennend und händigte Vater Svensson den großen Plüschbären aus. Joseph aber reichte ihn gleich an Lukas weiter und sagte dabei: "Für Lisa von ihren Großeltern, ja?!". Svensson junior nickte gerührt: "Danke, Mum und Dad! Ich bin mir sicher, sie wird sich ebenso sehr darüber freuen, wie ich es tue!". Die Drei drehten wieder um und gingen noch ein paar Schritte. Wieder schauten sie sich all die Attraktionen des imposanten Markttreibens an, und wieder verging die Zeit wie im Flug.

Schließlich warf Joseph irgendwann einen Blick auf seine Armbanduhr, deren kleiner Zeiger schon auf der Elf stand, worauf der Familienvater mahnte: "O, ho, ho! Wir müssen aufbrechen! Ich glaub, wir besorgen uns mal rasch ein der Jahreszeit angemessenes Taxi?!". Maria nickte. Und Lukas staunte nicht schlecht, als wenige Sekunden später ein großer goldener Schlitten, gezogen von vier Rentieren mitten auf dem Markt vor ihren Füßen hielt. Maria vollführte mit ihren Armen eine einladende Geste, worauf erst Joseph, dann Lukas und zu guter Letzt auch sie auf dem Schlitten Platz nahmen und Sekunden später mit Glöckchengeläut zu ihrer letzten gemeinsamen Reise aufbrachen.

Eine gute halbe Stunde fuhren sie quer durchs winterliche Berlin, bis der Rentierschlitten schließlich unmittelbar vorm Zaun des Flughafengeländes in Berlin-Schönefeld bremste. Maria und Joseph stiegen aus, während Lukas noch ein wenig verblüfft schaute. Dann aber verließ auch er den Schlitten. Durch den hohen, gesicherten Zaun hindurch konnte man das Flugfeld sehen, auf dem nahezu ununterbrochen Flieger starteten und landeten. Joseph und Maria nahmen ihren Junior an den Händen und durchquerten mit ihm geistergerecht den Zaun. Nun standen sie mitten auf dem schneebedeckten Rasen, direkt zwischen zwei Flugschneisen. Joseph Svensson aber nahm eine feierliche Haltung an und sprach: "Ja, mein Sohn, nun heißt es Abschied nehmen! Ich glaube, ich kann auch für Deine Mutter sprechen, wenn ich sage: Wir sind überglücklich, daß wir diese Reise mit Dir machen durften. Es war ein unglaubliches Erlebnis und auch ein wunderbares Himmelsgeschenk für uns alle. Wer bekommt schon im Leben eine Chance, eine verpaßte Gelegenheit doch noch nachzuholen. Uns aber war genau das vergönnt. Wir durften mit unserem Sohn Weihnachten feiern - jenes gemeinsame Weihnachten, das wir damals durch unseren tragischen Unfall nicht mehr feiern konnten. Und ich darf wohl mit Fug und Recht behaupten, daß dies das schönste Weihnachten war, das jeder von uns Dreien je in seinem Erdendasein erlebt hat". Damit schloß er seinen Sohn fest in die Arme und klopfte ihm väterlich auf die Schultern. Maria aber liefen Tränen der Rührung übers ganze Gesicht, während nun auch sie sich von ihrem Sohn verabschiedete: "Lukas, mein Junge! Du mein guter, lieber Lukas! Wir Zwei lieben Dich so sehr, wie nur Eltern ihr Kind lieben können! Wir werden auch in Zukunft stets bei Dir sein und unsere Hände schützend über Dich halten. Vergiß uns nie und trage in Deinem Herzen stets die Erinnerung an diese schönen gemeinsamen Stunden, besonders an trüben Tagen! Gib niemals auf, das Leben geht immer weiter, selbst nach dem Tod! Lebe jeden Tag auf Erden, als sei es Dein letzter. Denn keiner von uns weiß, wann er vom Himmel her abberufen wird!".

Joseph Svensson hakte bei den Worten seiner Frau ein: "Erinnerung! Das ist ein gutes Stichwort, mein Engel! Wie wärs denn noch mit einem ganz besonderen Erinnerungsfoto zum Schluß! Weißt Du noch, Sohnemann, was wir früher immer beim ersten größeren Schneefall gemacht haben?!". Lukas aufkommender Abschiedsschmerz verflog augenblicklich wieder, und er hüpfte begeistert in die Luft: "Aber klar doch! Schnee-Engel!". Bei diesen Stichwort aber nahmen die Svenssons in einer Reihe nebeneinander Aufstellung, Lukas in der Mitte. Dabei richteten sie sich so aus, daß sich bei ausgestreckten Armen ihre Fingerspitzen nur leicht berührten. Dann ließen sie sich auf Vater Svensson's Kommando "1-2-3" rücklings auf den verschneiten Rasen fallen und begannen sofort, Arme und Beine wild auseinander und wieder zusammen zu bewegen. Im weichen Schnee unter ihnen aber entstand dabei ein Abdruck wie von Engeln mit ihren Flügelchen. Vorsichtig erhoben die Drei sich wieder. Lukas aber holte rasch die geschenkte Kamera aus seinem Mantel und knipste ein Foto von der Schnee-Engel-Dreiergruppe. Dann steckte er die Kamera zurück in seine linke Manteltasche und nahm zum Abschied seine Mutter noch einmal fest in den Arm. Und dabei hauchte er ihr ins Ohr: "Ich hab Dich lieb, Mum! Auf Wiedersehen, irgendwann einmal bei Euch zuhause, ja?!". Mutter Maria nickte schluchzend und flüsterte: "Ach, Lukas! Grüß bitte Onkel Fritz ganz lieb von uns!". Dann faßten sich Maria und Joseph stumm bei den Händen und begannen, in Richtung einer der Startbahnen zu laufen. Erst langsam, dann immer schneller. Einmal schauten sie sich noch um und winkten ihrem Jungen zu. Im selben Moment aber fuhr unter lautem, vielstimmigen Glockengeläut auch der Schlitten vorm Zaun wieder davon. Und während die Glöckchen läuteten, verwandelten sich die Arme der Svenssoneltern wie schon zuvor im Schnee in leuchtend weiße Flügel, mit denen sie am Ende der Startbahn abhoben und davonflogen - höher und immer höher, bis sie schließlich inmitten der Wolken verschwanden.

Lukas schaute ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Da war zum einen natürlich die verständliche Trauer über den Abschied. Aber zum anderen war da eben auch das Glücksgefühl, seine Eltern überhaupt noch einmal wiedergesehen und mit ihnen ein wundervolles Weihnachtsfest verlebt zu haben. Und dieses Gefühl überwog am Ende. Tief im Innern ließ es Lukas unendlich dankbar werden. Und so faltete er - während er sich schneller werdenden Schrittes auf den Weg zum Flughafengebäude begab - die Hände und dankte im Stillen seinem himmlischen Vater für dieses außergewöhnliche Weihnachtsgeschenk.

Nur wenige Minuten später stand der Ex-Inspektor inmitten der großen Flughafenhalle, einmal mehr an diesem Tag umgeben von Hunderten Menschen. Seine Gedanken begannen sich hier langsam wieder um Yelena zu drehen und um ihr plötzliches Verschwinden. Eines war ihm nun klar: Er mußte sie suchen, das war seine Aufgabe. Rasch blickte er zur Uhr neben der Anzeigetafel. Sie zeigte exakt 23 Uhr 58. Aus den Lautsprechern des Flughafens aber drang im selben Augenblick eine Stimme an sein Ohr: "Mister Lukas Svensson, gebucht für den Non-Stop-Flug Berlin-London! Begeben Sie sich bitte umgehend zu Gate 26!". Auf der Anzeigetafel über ihm aber verschwanden dabei für zirka 10 Sekunden alle Flugzeiten, an deren Stelle in dieser Zeit der Schriftzug: "Gute Reise und viel Glück, Lukas! Mum und Dad!" auftauchte. Lukas zwinkerte der Anzeige zu, und seine Lippen formten dabei ein lautloses "Danke!". Dann lief er zum ausgerufenen Flughafentor, das bei seinem Eintreffen in den vertrauten hellen Lichtschein tauchte. Er aber schloß die Augen und warf sich dem Lichte entgegen, wobei er laut rief: "Yelena, ich komme!".

Als Lukas Svensson seine Augen wieder öffnete, stand er mit ausgestreckten Armen im Flur seiner Londoner Wohnung. Um ihn herum war es angenehm warm und dunkel, was mit einem Male eine Erschöpfung bei ihm einsetzen ließ, welche wohl von all den Strapazen der langen, ereignisreichen Reise her rührte. Der Ex-Inspektor gähnte und streifte dann den schweren Regenmantel ab, welchen er achtlos im Vorbeigehen wieder über die Flurgarderobe warf. Sein Körper war plötzlich bleischwer, und seine Augen verkleinerten sich zu Schlitzen, während er sich wie in Trance auf das Schlafzimmer mit dem einladend wartenden Bett zubewegte. Schließlich stand er davor, gähnte noch einmal kurz und ließ sich dann rücklings aufs Bett fallen, wobei er noch einmal leise "Schnee-Engel" murmelte, bevor ihm die Augen gänzlich zufielen. Um ihn herum aber wurde es dunkel, während ihn in der Traumwelt seines Unterbewußtseins ein heller, lichtüberfluteter Tunnel empfing, in dem ihm eine wundervoll strahlende Yelena im weißen Flügelkleid mit offenen Armen entgegenschwebte ...

[ENDE]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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Angel (6. September 2012, 23:19), M.V.V.M. (30. Mai 2012, 09:38)

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